Die Lichter Moskaus

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Agnesa hatte ihren Blick gehoben und ihn mit geweiteten Augen angeschaut. „Aber wo sind die Lichter?", hatte sie bedächtig und langsam gefragt und ihn mit einem so tiefen Blick gemustert, dass es ihn im Herzen schmerzte.

Er hatte sich herabgebeugt und auch ihre zweite Hand gefasst. Kopf an Kopf hatten sie sich gegenüber gehockt, Schwester und Bruder, die besten Freunde und der einzige Halt, den sie hatten.

„Das werden wir gemeinsam herausfinden müssen."

Zunächst war sie nur auf seinen Schoß gekrochen und hatte die schmalen Arme um seinen Hals geschoben, doch dann hatte sie ganz allmählich und zunehmend überzeugender genickt.

Für Daniil ist es ein Lebensziel geworden, dieses Licht zu sein, damit seine Schwester jemanden hat, der den Weg ihres Lebens erhellt, auch wenn rundherum tiefste Finsternis herrscht.

Mit einem Lächeln mustert er das Kind, das sich nun hinabbeugt und Sterne in die Reste des unberührten Schnees malt. Ihre Striche sind mit einer Feinheit gezeichnet, die Daniil immer wieder bewundert. Er beschließt, ihr Kreide zu besorgen. Es ist lange her, dass sie welche gehabt haben, aber irgendwo wird bestimmt welche aufzutreiben sein. Und seine Schwester liebt es, zu zeichnen und ihren Figuren, Leben einzuhauchen. Es wäre schade, wenn ihr diese Möglichkeit, ihre Fantasie auszudrücken, genommen werden würde.

Seine Schwester. Die Nachbarin beschimpft sie oft verächtlich als Gassengöre, ihr Mann nennt sie Banditentochter. Doch für ihn ist sie einfach nur seine Schwester – und die beste Freundin, die er hat.

Das schmale Haus, vor dem sie stehen bleiben, ist eingequetscht zwischen einem Buchladen, in dessen Schaufenster Romane liegen, die schon vor Daniils Geburt erschienen sind, und einem Warenhaus mit hässlichen Schaufensterpuppen, das jetzt geschlossen ist.

Es ist eine verlassene und hoffnungslose Gegend, die selbst Daniil auf seinen Streifzügen selten betreten hat.

Er greift nach der Hand seiner Schwester und hält sie zurück.

„Lass uns wieder gehen", flüstert er, auch wenn er nicht in Worte fassen kann, was ihn so zögern lässt. Es ist Agnesa gewesen, die hierhin gelaufen ist, natürlich, den Schneeflocken hinterher, die hier noch auf eine wenig zerstörte Schneefläche sinken.

Und natürlich kümmert sie sich auch jetzt nicht um seine Bitte.

„Sieh nur!" Sie beugt sich hinab und klaubt ein Papier auf. Die Schrift ist durch den Schnee verlaufen, doch kann man noch die verschwommenen Konturen einer Karikatur erahnen.

„Was es wohl aussagt?", fragt seine Schwester und fährt mit ihren dünnen Fingern die Konturen nach.

„Ich weiß es nicht", erwidert Daniil, auch wenn er den Judenstern eben so erkennen kann und weiß, dass hier eine Synagoge in der Nähe steht.

Mit einem Lächeln betrachtet er seine Schwester. Völlig in sich vertieft blickt sie auf die verblasste Schrift und vergisst, was um sie herum geschieht. Die blonden Locken gucken unter der dicken Wollmütze hervor, durch die Luftfeuchtigkeit stehen sie vom ganzen Kopf ab. In dem großen Mantel versinkt ihre kleine Gestalt, auch wenn dieser sehr warm ist, wie ihr Bruder aus Erfahrung weiß.

„Daniil!" Ihr Mund öffnet sich und ihre Augen leuchten, als sie auf die dunkle Haustür des kleinen Hauses zeigt. Er liebt es, ihre klare, helle Stimme zu hören, in der noch die Unschuld der Kindheit mitschwingt.

„Was ist denn?", fragt er und bemüht sich, seinen Worten keinen ungeduldigen Ton zu verleihen.

Aufgeregt deutet sie auf die Karikatur. „Der Stern hier. Es ist derselbe wie über der Tür."

Mythen aus Silber und LichtWhere stories live. Discover now