Deine Tänzerin

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Diesen Oneshot habe ich für  Rebellicgurl's Schreibwettbewerb geschrieben.
Thema: Bruch
Platz: 1
Ich hoffe, er gefällt euch :)

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Erinnerst du dich an den Tag, an dem wir uns das erste mal getroffen haben? Dieses Weihnachtsfest vor drei Jahren, der Tag seitdem du meinen Schlüssel um deinen Hals getragen hast und du dich geweigert hast, ihn wieder abzunehmen.

"Los, pack es aus", forderte mich mein älterer Bruder mit einem sanften Lächeln im Gesicht auf. Neugierig hob ich das kleine Paket, welches in rotes Weihnachtspapier eingewickelt worden war, hoch und schüttelte es vorsichtig. Es war ziemlich leicht und klapperte leise. Ich riss das Geschenkpapier ab und hielt nun einen kleinen, braunen Karton in der Hand. Fragend blickte ich meinen Bruder an, doch er lächelte nur noch etwas breiter. Also öffnete ich schließlich auch den Karton und blickte auf eine kleine, unglaublich filigrane, in Schaumstoff eingebettete Porzellanpuppe.

Erinnerst du dich an die sanfte Melodie zu der ich das Tanzen lernte? Diese leisen Töne, die durch dein Zimmer hallten, als du mir dabei zugesehen hast und du deine Gedanken schweifen lassen konntest. Ich erinnere mich an deinen verträumten Blick, der jedes mal aufs neue erschien, sobald ich mich zu drehen begann.

Es klopfte an meiner Zimmertür und ich schreckte aus meinen Tagträumen hoch. Die letzten Stunden hatte ich fast ausschließlich damit verbracht, meiner Tänzerin zuzusehen und über mein Leben nachzudenken. "Komm rein", meinte ich schließlich, nachdem ich eines meiner Schulbücher wahllos auf einer Seite aufgeschlagen hatte, um wenigstens so zu tun als würde ich etwas produktives machen.
Mein Bruder kam mit einem Teller voller Plätzchen herein und ich hielt schnuppernd die Nase in die Luft. Das Gebäck verbreitete einen süßen, wohltuenden Geruch in meinem kleinen, aber trotzdem gemütlichen Zimmer. Er setzte sich auf mein Bett, nachdem er den Teller vorsichtig auf dem Nachtisch abgestellt hatte und musste lächeln, als sein Blick auf meine Tänzerin fiel, die sich immer noch langsam drehte.

Erinnerst du dich an die langen Gespräche, die ihr geführt habt, während ich im Hintergrund leise musizierte? All die Geheimnisse, die du mit ihm geteilt hast, obwohl alle deine Freunde sagten, dass sowas untypisch für Geschwister sei.

Die Tage strichen dahin und ich verbrachte mehr und mehr Zeit in meinem Zimmer vor meinen Schulbüchern oder war gar nicht erst zuhause. Meine ganze Familie lebte sich auseinander, ohne das es irgendjemandem von uns wirklich auffiel. Jeder folgte seinen Verpflichtungen und Hobbies, die gemeinsamen Essen fielen immer öfter aus und die Weihnachstgeschenke wurden von Jahr zu Jahr unkreativer und unpersönlicher. Und doch würde jeder von uns behaupten, unsere Familie stand sich sehr nah, denn das war die Lüge, die sich jeder von uns selbst einredete. Außer er.

Erinnerst du dich an die darauffolgenden Jahre, als eure nächtlichen Gespräche immer seltener wurden?Ich erinnere mich an die Stille in deinem Zimmer, weil du mich immer seltener beim Tanzen beobachtetest und ich anfing auf dem obersten Brett deines Regals die Staubkörner zu zählen. Doch nie hast du mich aus deinem Zimmer verbannt, obwohl so viele meiner und deiner Freunde nach und nach verschwanden.

Die Umzugskartons füllten sich und nur das Regal hinter meinem Bett war noch nicht leer geräumt. Ich trat näher und begann, die einzelnen Bücher und Figuren genauer zu betrachten. Die meisten davon landeten nach und nach in der Kiste, die mich nicht zu unserer neuen Wohnung begleiten würde. Doch plötzlich fiel mein Blick auf die zarten Konturen der kleinen Porzellanfigur, die mir so viel bedeutete und trotzdem war sie immer mehr in Vergessenheit geraten. Ich hob sie vorsichtig hoch und betrachtete sie nachdenklich.
Und genau das war der Moment, in dem mir auffiel, dass in letzter Zeit so viel falsch gelaufen ist, dass all die Lügen mich innerlinch betäubten und das ich nicht nur die Puppe vernachlässigt hatte.

Erinnerst du dich an dem Tag, an dem du realisiert hast, dass deine Familie so viel wichtiger ist, als all die Probleme, die euch auseinander gebracht haben? Der Tag, an dem du mich aus den Staubwolken befreit hast und mir in der neuen Wohnung wieder einen Ehrenplatz auf deinem Fensterbrett geschenkt hast. Ich erinnere mich an den Tag,  denn es war der erste Tag seit so langer Zeit, an dem dein Lachen wieder durch die dünnen Wände der Wohnung hallte, aber gleichzeitig auch einer der letzten.

"Ich hab dich lieb", flüsterte mein Bruder, als wir uns umarmten. Ich musste lächeln, denn das hatte ich so lange nicht mehr von ihm gehört und es tat so gut. "Und ich hab dich auch lieb", murmelte ich, bevor er sich von mir löste, sich von unseren Eltern verabschiedete und zur Haustür hinaustrat. Es war der erste Tag an dem ich versuchte, das Verhältnis in unserer Familie wieder zu verbessern. Ich wollte das es wieder so wird wie früher. Aber wie sagt man so schön? Es wird nichts mehr so werden, wie es einmal war. Aber er hatte mir versprochen, dass wir am Abend etwas zusammen machen würden. Spiele spielen oder lesen, worauf auch immer ich Lust hatte.

Erinnerst du dich an den Tag an dem dein Bruder zum ersten Mal ein Versprechen brach? Der Tag an dem er nicht nach Hause zurückkehrte und deine Eltern mit jeder Stunde wütender wurden und du dir von Stunde zu Stunde mehr Sorgen gemacht hast. Ich erinnere mich an den Tag, denn an dem Tag musstest du einsehen, dass es keinen Sinn hatte, die Vergangenheit zurückzuholen.

Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, überfluteten mich die Ereignisse des letzten Abends. Ohne zu zögern sprang ich aus meinem weichen Bett und sprintete die Stufen hoch zum Zimmer meines Bruders. Ich blieb stehen und starrte einige Sekunden auf das dunkle, kalte Holz der Tür, welches in diesem Moment so bedrohlich wie nichts anderes auf der Welt wirkte. Langsam hob ich meine Hand und klopfte leise an. Nichts, keine Reaktion. Ich klopfte erneut, dieses mal lauter und länger. Wieder nichts. Ich riss die Tür auf und starrte auf ein leeres Bett, über und über bedeckt mit Büchern, Zeitungsartikeln und Klamotten.

Erinnerst du dich an die Stunden, die du nervös in deinem Zimmer auf und ab getigert bist und darauf gewartet hast, dass deine Eltern dir endlich eine Antwort auf deine Fragen geben konnten? Ich erinnere mich an den Tag, denn es war das erste mal seit Jahren, dass du den Schlüssel von deinem Hals abnahmst und mir damit wieder die Kraft zum Tanzen eingehaucht hast. Zum ersten mal seit so langer Zeit konnte ich mich wieder zu der immer gleich bleibenden Melodie drehen. Doch meine Musik brachte dich nicht mehr zum Lächeln, dein Blick wurde immer bedrückter, je länger du mich beobachtet hast.

Als das Telefon zu klingeln begann, legte sich eine Schockstarre über jede Person in der Wohnung. Ich sah, wie meine Mutter ganz langsam nach dem grauen Hörer griff, welcher wie immer auf seiner Ladestation stand, und ihn sich ans Ohr presste. Mit undefinierbaren Blick lauschte sie der Stimme am anderen Ende, bis ihr das Telefon plötzlich kraftlos auf der Hand rutschte.

Erinnerst du dich an den Tag, an dem deine schlimmsten Alpträume in Erfüllung gingen? Ausgelöst durch diesen Anruf am späten Nachmittag, der von dem Krankenhaus direkt um die Ecke ausging? Ich erinnere mich, wie du jede Bewegung deiner Mutter unruhig verfolgt hast, bis diese schließlich weinend zusammenbrach und euch nicht einmal erklären konnte, was passiert ist. Ich erinnere mich daran, dass keine zwanzig Minuten später die Polizei in der Wohnung stand und die Nachricht erneut überbrachte.

Der Polizist musterte mich mitleidig, während er mir und meinem Vater von dem Vorfall berichtete und fragte, ob wir den Grund dafür kennen würden. Kein Laut kam über meine Lippen und keine Träne rann über mein Gesicht. Alles schien in Watte getaucht zu sein und alles was ich hörte war das Blut, welches in meinen Ohren rauschte.

Erinnerst du dich an die Schuld, die du dir selbst zugeschrieben hast, weil du deinen Bruder so sehr vernachlässigt hast und nicht gemerkt hast, wie schlecht es ihm geht? Ich erinnere mich daran, da ich dir so gerne sagen wollte, dass du keine Schuld trägst, als du nach Stunden endlich wieder dein Zimmer betreten hast. Ich wollte dir sagen, dass es seine Entscheidung gewesen ist und das du genau die Schwester gewesen bist, die er sich immer gewünscht hat, dass du der Grund warst, weshalb er so lange durchgehalten hat. Doch stattdessen spürte ich, wie sich deine kalten Finger um mich schlossen, wie deine Tränen auf meine glatte Porzellanhülle fielen und von ihr abperlten. Deine Schreie füllten den Raum, der so lange mein Zuhause gewesen war. "Es tut mir leid" war das letzte, was ich dich flüstern hörte, bevor ich mit riesiger Wucht auf den Boden geschleudert wurde und in tausend kleine Teile zersprang.

Ich wollte dir sagen, ich bin dir nicht böse.
Als er ging, zerbrachen wir beide gemeinsam,

Deine Tänzerin

Meine kleinen GeschichtenWhere stories live. Discover now