Kapitel 1

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Kalte Gischt spritzte an der Reling hoch und hinterliess eine salzige Feuchte auf meinen Wangen. Mein Blick war zum Horizont gerichtet, wo die Klippen Englands langsam im dunklen Meer versanken. Ich fühlte mich... verloren.
Es war mein erstes Mal, dass ich mich ausserhalb von England befand, und bei dem Gedanken zog mich meine Brust jedesmal schmerzhaft zusammen. Dunkelheit umhüllte mich, nur wenige Öllampen brannten an Deck des Schiffs, ihr Schein reflektiert vom aufgewühlten Wasser unter mir. Die Wolken am Himmel verdeckten die Sterne, und ich hatte das Gefühl, von der Dunkelheit um mich verschluckt zu werden. Ein unangenehmes Gefühl.
Leise Schritte näherten sich mir, kaum zu hören über dem regelmässigen Schlagen der Wellen gegen das Holz. Ich wandte mich nicht um, als sie neben mir stehen blieben.
„M'lady?", fragte eine heisere Stimme.
Ich drehte mich um und sah einen grossen, breitschultrigen Seemann vor mir, eine Öllampe in der Hand, den besorgten Blick auf mich gerichtet.
„Ihr solltet unter Deck gehen", meinte er, als ich keine Antwort gab, „hier oben ist es kalt, und Ihr seid schon ganz durchnässt."
Ich zwang mich zu lächeln.
„Mir ist nicht kalt", erwiderte ich, bemerkte aber im selben Augenblick, dass ich zitterte und am ganzen Körper Gänsehaut hatte. Ich neigte den Kopf.
„Vielleicht habt Ihr Recht", sagte ich und setzte mich langsam in Bewegung, in Richtung meiner... unserer Kajüte.
Mein durchnässtes Kleid hinterliess salzige Tropfen auf der Holztreppe zum Unterdeck. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Royce würde in der Kajüte warten.
Nicht, dass es mich gestört hätte, doch ich wollte ihm nicht sagen, weshalb ich nochmals hoch an Deck gegangen war. Obwohl ich es mir selbst versucht hatte einzureden, war ich nicht dort gestanden, um frische Seeluft zu schnappen. Ich hatte noch ein letztes Mal zurückblicken wollen auf das, was ich zurück liess, oder besser gesagt, wen. Er war nun allein, hatte niemanden mehr, und der Gedanke beschäftigte mich ziemlich.
Du wirst neu anfangen und ihn vergessen.
Ja, das würde ich tun. Entschlossen schob ich jeglichen Gedanken an Louis Harmsworth aus meinem Kopf, was gar nicht so einfach war, weil ich zwei Sekunden später vor seinem genauen Abbild stand.
Royce lag auf dem Bett, die Beine überschlagen und las.
Als ich eintrat, ruckte sein Kopf hoch und er lächelte. Sobald er bemerkte, wie ich aussah, sprang er auf und sagte: „Du bist ja völlig nass. Was hast du da oben nur getrieben?"
Ich winkte ab.
„Das geht schon", meinte ich und begann mein Kleid und Korsett aufzuschnüren. Royce verstummte und sah mir zu. Ich wusste, was in ihm vorging. Wir waren uns nie so nah gewesen. Natürlich waren wir uns mehrere Male körperlich näher gekommen, aber das hier war anders. Wir würden in der Zukunft nicht mehr nur Küsse und Umarmungen teilen, sondern unser ganzes Leben, unsere Zeit, einfach alles. Wir hatten noch nie so nah beieinander gelebt, und das Gefühl war ziemlich intensiv. Ich konnte mich nicht einmal entkleiden, ohne dass er dabei war.
Als ich mir das triefende Kleid von den Schultern gleiten liess, spürte ich seine warmen, sanften Hände, die mir den Stoff abnahmen, um ihn zum Trocknen aufzuhängen. Seine Berührung, die ich so lange nicht mehr verspürt hatte, sandte Schauer über meinen Rücken. Ich betrachtete ihn, wie er mein Kleid an den Haken neben der Tür hängte, wobei ich mich meines Korsetts entledigte.
Er war so viel härter geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht so wurde wie Louis, dessen Zorn ihn hin und wieder völlig übermannte. Doch dann bemerkte ich den sanften Ausdruck in seinen Augen, der einen starken Kontrast zu seinem sonst kantigen Gesicht abgab und der immer dann zu sehen war, wenn er mich erblickte. Bei dem Gedanken daran wurde mein Herz ganz weich.
Unbedacht der Tatsache, dass ich nur noch ein dünnes Unterhemd trug, trat ich zu ihm und hob die Hand, um zärtlich über seine Wange zu streichen. Er hielt inne, suchte meinen Blick.
„Ich habe dich vermisst", sagte ich leise. Sanft strich ich durch sein dunkles Haar und zog seinen Kopf zu meinem.
Er nickte nur, bevor er seine Arme um meine Taille legte und mich an sich zog. Seine Stirn vergrub sich in der Grube an meinem Hals und ich spürte seinen warmen Atem über meine Schlüsselbeine streichen. Er hielt mich sanft, sagte kein Wort, bis seine Lippen meine fanden.
Als er mich sanft zu küssen begann, wurde ich mir wieder bewusst, wie wenig bekleidet ich noch immer war. Auch an ihm schien die Tatsache, dass ich nur noch ein Unterhemd trug, nicht spurlos vorbeizugehen. Seine Hände wanderten höher, liessen mich wohlig erschauern, strichen über meine Rippen und noch höher.
Ich drängte mich näher an ihn, ich wollte ihn spüren, ihm noch näher sein...
Fühlt es sich gleich an?
Die Frage tauchte plötzlich in meinem Kopf auf. Egal, wie sehr ich sie zu verdrängen suchte, konnte ich doch nicht aufhören, daran zu denken, dass Louis mich ebenso berührt hatte, wie Royce es jetzt tat.
Louis.
Fühlt es sich gleich an?
Ich entzog mich Royce' Berührungen.
„Nein", wisperte ich, „Nicht."
Seine Hände entfernten sich zwar von den heikleren Stellen meines Körpers, blieben aber auf meinem Rücken liegen. Sobald seine Lippen nicht mehr auf meinen lagen, fragte ich mich, warum ich aufgehört hatte.
„Was ist denn?", fragte er leise, sein warmer Duft umhüllte mich, und ich zog ihn wieder näher, hielt aber doch inne.
Was willst du überhaupt?
Was wollte ich?
Kopfschüttelnd flüsterte ich: „Ich... ich weiss nicht. Es ist so viel passiert, ich denke, ich brauche einfach Zeit." Hilfesuchend sah ich ihn an. Sein Blick wurde weich und er küsste mich noch einmal, etwas härter diesmal, sodass meine Knie ganz wabbelig wurden. Er war so warm, aber doch irgendwie kalt, seine Lippen hinterliessen ein kribbelndes Gefühl auf meinen. Innert Sekunden war der kurze Augenblick vorbei und Royce löste sich von mir.
„Nimm dir alle Zeit, die du brauchst", meinte er und trat zurück, „In zwei Tagen sind wir in Frankreich."
Ich lächelte leise und nickte. Er drehte mir den Rücken zu und begann, sein Hemd ebenfalls aufzuknöpfen. Als er es über seine Schultern gleiten liess, sah ich seine ausgeprägte Rückenmuskulatur. Er sah... stärker aus.
Dann erst bemerkte ich die Narben, die sich über seine Schulterblätter zogen.
„Royce", sagte ich erschrocken und trat an ihn heran, strich mit den Fingern den hellen Strichen auf seiner Haut nach. Einige schienen alt, andere frisch und rosa.
Ich hatte ihn noch nie unbekleidet gesehen, und der Anblick war schockierend.
„Was hast du getan?", fragte ich leise.
Er senkte den Kopf, sah mich nicht an.
„Siehst du die älteren?", fragte er nach einer kurzen Weile.
Ich nickte.
„Die sind noch von Vater", sagte er erstickt.
In meinem Hals bildete sich ein Kloss, hart und kalt. William hatte ihn geschlagen, als er noch kleiner gewesen war, das wusste ich, doch ich hätte nicht gedacht, dass er noch immer Narben davon hatte. Ich spürte, wie mein Hass auf Royce' Vater noch grösser wurde.
„Und... die Neuen?"
„Strassenkämpfe", meinte er, „ich habe keine einfache Zeit gehabt in den letzten Monaten."
Ich schluckte.
„Das tut mir leid", sagte ich leise und streichelte seinen Rücken, fuhr den rosafarbenen, frischen Striemen nach, die aich über die harten Muskeln zogen.
Royce erzitterte, dann entzog er sich entschlossen meiner Berührung und ging zum Bett.
„Das ist jetzt nicht von Belang", sagte er bestimmt und liess sich darauf fallen. Die Kälte in seinem Blick war mir unbekannt, und ich schauderte leicht.
„Lass uns schlafen, es ist spät", fügte er an und zog die Decke beiseite.
„Ich komme gleich", meinte ich und begann, meine Haarspangen zu lösen, bis mein ohnehin schon feuchtes Haar mir offen über die Schulten fiel. Mit flinken Fingern flocht ich es zu einem Zopf, damit die Laken nicht allzu nass würden, und begab mich zum Bett. Ich legte mich neben Royce, der ohne zu zögern seine Arme um mich schlang und mich an sich zog. Seine Lippen drückten einen Kuss auf meine Stirn und er legte das Kinn auf meinen Scheitel.
„Schlaf gut, kleiner Engel", flüsterte er.
Ich musste lächeln. So hatte er mich früher genannt, als wir noch als Zwölfjährige im Garten Fangen gespielt hatten.
Wie viel hatte sich nur verändert. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, atmete seinen Duft ein und spürte, wie meine Augenlider schwer wurden.
„Ich liebe dich", murmelte ich und spürte, wie er sein Gesicht in meinem Haar vergrub.
„Ich liebe dich auch, mein kleiner Engel", hörte ich ihn erwidern, ehe ich in den Schlaf abdriftete. Dunkelheit umfing mich, und ich fühlte mich endlich sicher, hier in Royce' Armen.

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