„Lange?" James lachte. „Ehrlich gesagt hatte ich nicht gedacht, dass das so einfach und schnell gehen würde!" Doch das Lachen erstarrte auf seinem Gesicht. Seine Augen lagen auf einem bestimmten Punkt am Himmel. Er fluchte leise. Es war noch nicht vorbei. Mir lief ein heißer Schauer über den Rücken. Die Wachen waren nur die Ablenkung gewesen. Jetzt bekamen wir es mit der richtigen Bedrohung zu tun. Und das würde alles andere als einfach werden.

Dunkle Flugmaschinen verdunkelten den einst blauen Himmel. Dutzende Soldaten hockten dort oben in den Lüften und richteten ihre Waffen auf uns. Die meisten von denen hatte ich noch nie gesehen. Doch an Lucius' Blick erkannte ich, dass es alles andere als gut aussah.

„Ach, die paar Waffen.", meinte Liam und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das wird doch wohl kein Problem sein." Jedoch teilte Lucius seine Meinung definitiv nicht. Er war vollkommen angespannt und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Besorgnis. Das einzige, das er dazu zu sagen hatte, war: „Das sind keine normalen Gewehre."

Etwas an dieser Aussage und dem Ton, mit dem er das sagte, ließ mich Schlimmes erahnen.

„Na und?", erwiderte Liam. „Ist das nicht egal? - Freya, leg los." Ein siegessicheres Grinsen lag auf seinem Gesicht. Doch kein anderer teilte es mit ihm.

„Lasst euch bloß nicht von einer der Kugeln erwischen.", warnte Mikéle Liam, Kieran und mich.

Audras chluckte. Sie zitterte. Wahrscheinlich glaubte sie, es wäre ihr besser ergangen, wenn sie einfach in ihrer Zelle geblieben wäre. Vielleicht war das auch so. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht dasselbe Schicksal ereilte, wie Aldric.

Erst jetzt bemerkte ich, dass die Hubschrauber am Himmel nicht unser einziges Problem waren. Wir waren umzingelt. Bewaffnete Menschen hockten hinter den Fenstern des Gefängnisses. Alle Waffen waren auf uns gerichtet. Und auch auf der anderen Seite – hinter dem Zaun – hatten Menschen sich bereitgestellt.

Ohne zu zögern erhob ich meine Hände. Ebenso schnell wie ich das tat, schossen messerscharfe Eissäulen aus dem Boden. Diese krachten in die Helikopter.

Menschen schrien. Rotorblätter verstummten.

Zwei der Helikopter brachen entzwei und kamen mit einem lauten Krachen am Boden auf. Allerdings reichte das nicht. Noch genug Helikopter befanden sich in der Luft. Zwar aufgespießt, aber noch genug Soldaten waren in der Lage, ihre Waffen auf uns zu richten. 

Nun war es an Kieran, zu fluchen. Und wenn Kieran fluchte, dann musste das etwas bedeuten. Er konnte nichts tun. Weder war er in der Lage, so hoch zu springen, dass er die Menschen in den Helikoptern ausschalten konnte, noch konnte er etwas gegen die Wachen im Gebäude tun. Selbst an die Menschen hinter dem Zaun kam er nicht ran. Würde er einen Schritt wagen, würden dutzende Menschen auf ihn schießen.

Sogar Liams Feuer würde uns keine Garantie geben, hier lebend herauszukommen. Auch die Jäger erkannten die Aussichtslosigkeit dieser Lage. Keiner von ihnen wagte es, seine Pistole abzufeuern. Denn das würde nur dazu führen, dass uns unzählige Kugeln durchlöchern würden.

Und mein Eis hatte uns nicht geholfen. In keinster Weise. Es hatte die Menschen nur dazu gebracht, mich als die größte Bedrohung zu erkennen. Dutzende Waffen richteten sich allein auf mich.

Die Augen meines Bruders weiteten sich entsetzt. „Freya ..." Ersetzte an, noch etwas zu sagen, doch dazu kam er gar nicht. Ehe ich auch nur eine Hand erheben konnte, explodierte der Schmerz. Erschrocken riss ich meine Augen auf. Mein Mund öffnete sich überrascht. Ich sank in die Knie.

Audra schrie. Sie wollte zu mir rennen, doch Kieran schnellte vor und ergriff sie am Handgelenk. Er hielt sie fest in seinem eisernen Griff. „Lass mich!", keifte Audra. Ihre Augen klebten auf mir. Sie versuchte sich aus Kierans Griff zu befreien, doch gegen ihn war sie machtlos.

Plötzlich ließ sich Lucius neben mir fallen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass er auf mich zugekommen war. Der Schmerz nahm mir die Luft zum Atmen. Er lähmte mich.

„Frey.", murmelte Lucius. „Hey, Frey." Sanft legte er seinen linken Arm um mich und drückte mich vorsichtig an sich. „Der Schmerz wird gleich verschwunden sein. Ebenso die Kugeln in deinem Körper." Mein Bruder nahm mir achtsam die Sonnenbrille ab und streifte mir die Kapuze vom Kopf. „Das sind Kugeln, die extra für Mutanten entwickelt wurden.", erklärte er mir. „Die einzige Wirkung, die sie haben, ist der vorläufige Schmerz und -" Doch ich ließ ihn gar nicht erst ausreden.

Wie er es mir vorher gesagt hatte, war der Schmerz genauso schnell vorüber, wie er gekommen war. Abrupt richtete ich mich auf. Ich spürte wie sich meine Haut, wie auch meine Augen, veränderten. Ich war wütend. Und frustriert. Außerdem musste ich uns alle irgendwie lebend heraus bekommen. Meine Hände richteten sich gegen den Himmel. Nichts geschah.

Mein Herz setzte aus. Nein. Das konnte nicht sein.

„Was...?", machte Liam. Seine Stirn runzelte sich verwirrt. Kieran dagegen schloss nur kurz reserviert seine Augen und rieb sich mit den Fingern seine Nasenwurzel. Er seufzte tief.

Die Panik überkam mich. Was war hier los? Weswegen gehorchten mir meine Fähigkeiten nicht mehr? Vorsichtig nahm Lucius meine Arme wieder runter. „Die einzige Wirkung, die diese Kugeln haben, ist der vorläufige Schmerz, wie auch das vorläufige Versagen deiner Fähigkeiten.", wiederholte mein Bruder und beendete somit seinen Satz.

Fassungslos sah ich ihn an. „Das vorläufige Versagen meiner Fähigkeiten?"

Lucius nickte bedauernd. „Ja. Diese Vorgehensweise gegen die Mutanten gibt es noch nicht allzu lange. Sie ist noch ganz neu. Deshalb kann ich dir auch nicht sagen, wie lange du deine Fähigkeiten nicht einsetzen kannst.", erklärte er mir.

„Und wie kommen wir jetzt hier weg?", wollte Mikéle wissen. In seinen Händen hielt er eine Pistole. Man konnte ihm unschwer ansehen, wie gerne er sie jetzt einsetzen wollte. Aber das wäre mehr als nur unklug.

„Gar nicht.", sagte Levi trocken. „Wir haben keine Chance. Wenn von uns einer anfängt, herum zuschießen, bekommen wir das hundertfache wieder. Ebenso wenn Liam oder Kieran ihre Fähigkeiten benutzen."

Genau in diesem Moment ertönte eine laute Stimme. „Legt die Waffen auf den Boden!" Diese wurde durch ein Megafon verstärkt. Planlos sahen die Jäger einander an.

„Haben wir eine andere Wahl?", fragte Brenda. Schweigen. 

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now