Besuch

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Es ist schon später Nachmittag, ich sitze auf meinem Bett, vor mir mein Mathebuch, es ist aufgeschlagen.
Langsam schunkle ich zu meiner Hausaufgaben-Playlist. So richtig hilfreich ist die auch nicht. Aber egal, es macht einfach mehr Spaß mit Musik. Mathe verstehe ich eh nicht, egal, wie sehr ich mich konzentriere. Vielleicht sollte ich einfach einen meiner Klassenkameraden fragen, ob die mir ihre Lösungen geben können.

Ich bin schon dabei, mein Handy im Durcheinander meines Zimmers zu suchen, als es unten an der Tür klopft. Sofort bleibe ich wie angewurzelt stehen. Als Kind habe ich im Spiel „Eiszeit" immer gewonnen. Das würde ich jetzt bestimmt auch noch.
Wer kann das sein? Meine Eltern arbeiten beide immer bis spät in den Abend. Nein, das muss jemand anderes sein.
Ich schleiche auf Zehenspitzen zur Treppe. Eigentlich Schwachsinn, meine Musik läuft doch noch.

Wieder ein Klopfen. Es klingt fast, als würde der Mensch auf der anderen Seite „Stayin' alive" von den Bee Gees klopfen. Ich kenne nur eine Person, die Fan von dieser Band ist....

„Scheiße, Felix, jetzt mach doch mal auf!" Höre ich seine Stimme durch die Tür rufen. Er ist es!
Ich laufe so schnell ich kann die Treppe runter und drücke die Klinke ruckartig hinunter.

„Sag mal spinnst du, einfach hier aufzukreuzen?", zische ich schon, dabei ist die Tür noch gar nicht richtig offen. Aber lange kann ich nicht wütend sein.

Dort steht er mit seiner schwarzen Lederjacke, einem Bandshirt und leuchtend roten Converse. Er hat eine ganze Sammlung davon. Am besten gefallen mir seine Blauen, die mit pinken Punkten überseht sind. Ich glaube, er hat die selbst bemalt. Damit sieht er ein bisschen aus wie ein Clown – gar nicht männlich. Aber es passt zu seinem Charakter.
Seine Haare sehen noch unordentlicher aus als sonst, kann das sein? Und dann auch noch dieses schiefe Lächeln und seine großen Knopfaugen.

„Du weißt, dass meine Eltern hier sein könnten!", flüstere ich und gucke dabei auf den Boden. Wenn er mich so anguckt, macht mich das immer ganz verlegen.
Linus lacht nur. Er ist generell ruhiger als ich. Geht das eigentlich?

„Na gut, ich weiß, ich hab dir erzählt, dass sie immer erst spät kommen. Aber trotzdem.", sage ich halb zu mir selbst und rolle mit den Augen. Dann mache ich ihm den Weg frei. Hoffentlich haben die Nachbarn das nicht mitbekommen.

„Dann lass mal sehen, wie schick es bei dir aussieht!", verkündet Linus mit einem riesigen Lächeln im Gesicht. „Wusstest du, dass man sehr viel über einen Menschen erfahren kann, wenn man sich seinen Einrichtungsstil anguckt?"
Linus wirkt fast wie ein Lehrer, sein Zeigefinger gehoben, als würde er etwas total wichtiges verkünden. Aber irgendwie stört es mich nicht.
Ich führe ihn die Treppe hinauf, in mein Zimmer. Er reißt die Augen auf, als er das Chaos auf dem Boden sieht, dann schmunzelt er.
„Ich hätte ja aufgeräumt, wenn ich gewusst hätte, dass du kommst", erkläre ich, weiß aber ganz genau, dass das eine glatte Lüge ist. Ich habe noch nie für irgendeinen Besuch aufgeräumt. Wozu auch, dann finde ich doch nichts wieder.

Linus schüttelt seinen Kopf und lässt sich auf mein ungemachtes Bett fallen.
„Spannend", sagt er und starrt dabei auf meine Wand. „Fast genau so habe ich es mir vorgestellt."
Ich antworte nicht. Kurz zögere ich, ob ich mich nicht einfach neben ihn legen sollte, entscheide mich dann aber anders und setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl.

Ein paar Minuten sitzen bzw. liegen wir einfach nur so rum. Langsam werde ich ungeduldig. Warum kommt Linus her und riskiert freiwillig, dass meine Eltern ihn sehen, wenn er jetzt nicht mal etwas wichtiges zu erzählen hat?
Naja, so schlimm finde ich es jetzt auch wieder nicht.  Er sieht eigentlich ganz gut aus, wie er da auf meinem Bett liegt. Ohne Kleidung wäre es fast noch besser. Ich würde mich neben ihn legen und über seinen nackten Oberkörper streichen und...

Halt, Stopp! Felix! Herr Gott. Was macht dieser Mensch nur mit mir?

„Alles gut?", fragt Linus. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er sich aufgesetzt hat. Wie peinlich. Ich spüre, wie ich langsam rot werde.
„Ich will dich ja nur ungern aus deinen Träumereien reißen, aber ich wollte eigentlich noch etwas mit dir besprechen." Er streicht durch seine Haare. Er hat schöne Hände, meine würden bestimmt perfekt in sie hinein passen.
Ich gucke ihn an und warte bis er weiter redet. Ich mag es, wenn er redet. Er hat so eine warme Stimme. Manchmal stelle ich mir vor, wie er bei mir steht, während ich Klavier übe. Er hätte eine perfekte Singstimme. Er selbst sieht das anders, aber das ist mir egal. Es sind ja immerhin auch meine Gedanken und Tagträume und nicht seine.

„Ich möchte, dass du dir den nächsten Freitag frei hältst." Linus strahlt mich an. „Du hast doch letztens gesagt, dass deine Eltern weg sind an dem Tag. Und dass du dann immer deine Freunde zu dir einlädst zum Filme gucken." Er macht eine Pause.

Der Filmefreitag? Lea und ich gucken da immer die schlechtesten Filme, die wir finden können und machen uns lustig. Das ist ein heiliger Tag. Eine Tradition, die wir schon seit mindestens fünf Jahren so führen. Es muss schon was extrem wichtiges sein, wenn er mich davon abhalten will.

„Also....Ich würde gerne etwas mit dir machen." Linus wirkt auf einmal ganz schüchtern, ganz anders als sonst. Eigentlich ist er total mutig. Hat er Angst, dass ich nein sage?
„Was machen wir denn?", harke ich nach. Vielleicht kann er mich ja doch überreden.
Er zuckt mit den Schultern und guckt mich mit seinen großen Augen bettelnd an.
„Ist ne Überraschung." Er lächelt und ist jetzt wieder ganz er. Nichts mehr vom ängstlichen Linus ist übrig. „Du wirst es nicht bereuen, Felix!" Er zwinkert mir zu.

Okay. Und was soll ich jetzt davon halten? Am liebsten würde ich ihm um den Hals springen und „Ja, ja, ja" rufen – aber etwas in mir sagt nein. Es ist immerhin Tradition. Ich muss das erst mit Lea besprechen oder nicht?

GelbWhere stories live. Discover now