Das gänzlich unauffällige Mädchen

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Das ist die Geschichte eines Mädchens, die kein Happy-End hat, wie die meisten Geschichten. Aber sie muss erzählt werden.
Es war einmal... ja, es fängt wunderschön an. Also, es war einmal vor nicht allzu langer Zeit, nicht in einem weit entfernten Land, sondern direkt hier in der Nähe, da lebte ein Mädchen. Haselnussbraune, glatte, lange Haare, blau-graue Augen. Ihr Gesicht hatte eine schmale Form, ihre Nase war klein und etwas spitz. Sie war nicht klein, aber auch nicht groß, sondern irgendwie dazwischen. Ihre Haut war etwas blass, aber nicht genug, um kränklich zu wirken. Das Mädchen hieß... sagen wir... Emma. Sie ging in die 10. Klasse an ein gemischtes Gymnasium. Ihre Noten waren gut, sie stand in beinahe jedem Fach auf einer 2, die wenigen Restlichen schloss sie mit einer 3 ab. Wie schon gesagt, sie war gänzlich normal, nichts an ihrem Äußeren war in irgendeiner Weise hervorstechend, auffallend oder gar seltsam. Einzig und allein ihre Stimme war besonders. Emma sprach leise, aber dennoch konnte sie jeder verstehen. Was immer sie sagte, sie tat es mit melodischer, weicher Stimme, sodass ihr jeder sofort aufmerksam zuhörte. Sie war so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt, und so verstummte sie nahezu. So war es nun schon lange, sehr lange, und Emma wollte einfach so weitermachen.

Doch eines Morgens – das neue Schuljahr hatte gerade begonnen – als sie gerade in Gedanken versunken auf dem Weg in die Schule war, stieß sie gegen jemanden. „Sorry!" Emmas Blick wanderte suchend etwas nach oben. Vor ihr stand ein Junge in ihrem Alter. Die dunklen Locken waren zu einem Under-Cut geschnitten und so verwuschelt, als wäre er gerade erst aufgestanden. Ein Paar schokoladenbraune Augen musterten sie interessiert. Der Junge hatte eine Stupsnase, die von einigen Sommersprossen bedeckt wurde. Emma blinzelte einige Male. Mit seiner gebräunten Haut, den breiten Schultern, den muskulösen Oberarmen, die dank seinem Shirt, dass schon etwas zu kalt für diese Temperaturen war, sehr deutlich zu erkennen waren, sowie seiner durchaus beeindruckenden Größe sah ihr Gegenüber alles in allem mehr als passabel aus. Eigentlich hatte sie sich bis jetzt nicht sonderlich für irgendeinen Jungen interessiert. Doch dieser war ganz anders. Warum auch immer. Emma's Herz stolperte kurz. „Kein Problem.", gab sie zurück. „Bist du neu hier?", fragte sie dann. „Ja, wir sind letzte Woche eingezogen. Mohammed." Der Junge hielt Emma freundlich die Hand hin. „Emma."

Von da an war Emma nicht mehr still oder unauffällig. Durch Mohammed blühte sie voll auf. Jeden Morgen trafen sich die beiden an der Kreuzung, an der sie sich das erste Mal getroffen hatten, gingen gemeinsam in die Schule, saßen im Unterricht nebeneinander, verbrachten die Mittagspausen zusammen, gingen wieder nach Hause und trafen sich teilweise noch für Hausaufgaben, Referate, oder einfach so. Und obwohl Mohammed beliebt war – vor allem bei der weiblichen Schülerschar – hielt er immer zu Emma. Diese versuchte, ihre Gefühle so gut wie möglich zu verstecken und einfach seine kurzzeitigen Flirts, die nie zu etwas führten, zu übersehen.

Eines Morgens im Sommer war Emma wieder auf dem Weg zu „ihrer Kreuzung". Doch sie sah Mohammed nicht. „Er wird vielleicht verschlafen haben.", dachte sie sich. In der Schule angekommen saß er bereits auf seinem Platz und scherzte mit seinem Banknachbar. Auch am nächsten Tag war er nicht am gewohnten Platz. So zog sich das eine Woche, bis Emma eines morgens verschlief, da sie sich am Abend zuvor den Kopf über das seltsame Verhalten ihres „besten Freundes" zerbrochen hatte. So beeilte sie sich, immer noch in der Hoffnung, die letzte Woche sei nur ein Traum gewesen und Mohammed würde wie immer auf sie warten. Da hörte sie das Knattern eines Rollers. Natürlich! Ihr bester Freund hatte seinen Führerschein gemacht, wie hatte sie das vergessen können. Aber warum hatte er sie nicht gefragt, ob sie mitfahren will? Die Antwort bekam sie, als das Geräusch immer näherkam und schließlich ein roter Roller um die Ecke kam. Vorne auf dem Gefährt saß Mohammed, über das ganze Gesicht lachend, und hinter ihm: Das beliebteste Mädchen der Schule. Blond, blaue Augen, schmale Taille, perfekter Hintern, Körbchengröße Doppel-D. Der Traum jedes Jungen an der Schule. Cecilia. Die Arme um IHREN Mohammed. Emma stand wie hypnotisiert da, als der Roller an ihr vorbeirollte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr Herz fühlte sich an, als hätte Cecilia es herausgerissen, mit ihren manikürten Fingernägeln zerrupft und dann an ihren Hund verfüttert. Die ganze Zeit stand sie da, völlig gelähmt. Und als die beiden einige Stunden später erneut vorbeifuhren, stand am Straßenrand bei „ihrer Kreuzung" immer noch ein Mädchen. Es war gänzlich unauffällig.



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