Ich brach in schallendes Gelächter aus und musste mir den vom Lachen schmerzenden Bauch halten und meine Kiefermuskeln entspannen, bevor sie noch vor Lachen verkrampften. Unter Lachtränen versicherte ich Jeremy, dass das alles, was er sehen würde, reine Natur sei und er beruhigt sein könnte. Kaum hatte ich ihm das verraten, schlug Alice ihn erneut mit den Papptellern und fluchte irgendwas von "Du bist ein verdammter Lüstling!" oder so ähnlich und griff auch schon nach dem nächsten Teller.

"Man wird ja wohl mal fragen dürfen.", rechtfertigte sich Jeremy und versuchte die Papptellerangriffe abzuwehren, was ihm jedoch nicht gelang. Alice war wie ein glitschiger Aal, der unter all seinen Bemühungen, sie von ihm fern zu halten, unter seinen Armen hindurchschlüpfte und ihm erneut einem Hieb verpasste. Als Außenstehender sah es beinahe, beim weniger genauen hinsehen, aus, als würden die beiden eine chaotische Form des Wiener Walzers tanzen. Nur das bei diesem Tanz Alice führte anstelle von Jeremy.

Aber auf Dauer konnte das nicht mehr gut gehen. Noch ehe Jeremy das Gleichgewicht verlor, erhob er sich in die Lüfte und flog Peter Pan - like und spielerisch über die sich windende Alice hinweg. "Wart' bloß ab, bis ich dich in die Finger kriege!", zischte sie gespielt böse und warf einen ihrer Teller nach ihm.

"Es war schön, so lange es andauerte, aber jetzt muss ich los meine kleine Wendy.", lachte er und flog Richtung Tür. "Ins Nimmerland.", fügte er dann noch zwinkernd hinzu, ehe er auch schon verschwunden war. "Nimmerland. Von wegen. Wohl eher zur Versammlung.", rief Alice ihm nach und nahm wieder am Esstisch platz.

"So ein Trottel.", lachte sie und tat so, als würde sie die Unordnung, die Jeremy und sie gemacht hatten, nicht sehen. "Peter Pan war als Kind mein Lieblingsfilm.", erklärte sie mir. "Deshalb zieht Jeremy mich immer damit auf." "Die Idee war nicht schlecht.", musste ich zugeben und dann lachten wir beide, nachdem wir die Verwüstung im Raum betrachtet hatte. "Was ein Chaos.", seufzte ich dann. "Das kannst du laut sagen. Peter Pan sollte kommen und uns beim Beseitigen der Verwüstung helfen, die er mit verursacht hat.", sagte Alice und bückte sich, um einen der verstreuten Pappteller aufzusammeln.

"Der kommt wohl so schnell nicht mehr zurück.", meckerte ich mit schon drei Tellern im Arm.

"Was hast du eigentlich noch alles an dir verändert? Nur die Augenfarbe oder noch mehr?", fragte Alice jetzt neugierig und blickte mir in meine natürliche Augenfarbe. "Mir gefällt die Farbe deiner Augen. Wie von einem kleinen süßen Teddybären. Richtig goldig.", fügte sie lächelnd noch hinzu.

"Danke, aber Swist hatte schon Recht, als er sagte, dass ich mich verändern müsste, sonst wäre ich wohl kaum so oft entkommen. Mittlerweile habe ich mich schon an das Grün gewöhnt, als wäre es ein Teil von mir. Und die dunklen, fast schwarzen Haare sind auch ok. Braune Haare lassen sich eben besser dunkel färben anstatt hell." Alice nickte verständnisvoll.

"Es passt auch zu dir. Es macht dich irgendwie noch geheimnisvoller, als du es ohnehin schon bist." Damit mochte sie wohl Recht haben, dachte ich, während ich nach einem weiteren Teller griff. "Und was ist mit dir? Wie bist du in diese ganze Sache hineingeraten?", fragte ich sie und fasste mit meinen Händen die naheliegende Umgebung zusammen. Alice lächelte liebevoll.

"Wahrscheinlich nicht ganz so spektakulär wie du.", sie schmunzelte. "Also alles hat hiermit begonnen.", sagte sie, drehte sich mit dem Rücken zu mir und hob ihr T-Shirt an. Auf ihrer Wirbelsäule prangte das Muster eines in sich verschlungenen Augenpaares, das aber auch genau so gut die Federn eines Pfaus sein konnten. Es war wunderschön und grazil, wie Alice selbst. Und in diesem Moment fragte ich mich, ob die Wahl des Musters wohl etwas mit der Persönlichkeit selbst und der Person zu tun haben könnte. Ich verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Dann ließ sie ihr T-Shirt wieder sinken und drehte sich zu mir um.

"Naja, wie du dir denken kannst, habe ich nicht schlecht gestaunt, als ich auf einmal das Muster da an meinem Rücken sah. Und mit dem Muster kam auf einmal diese Fähigkeit und ich konnte sie nicht kontrollieren. Es passierte zu ersten Mal, als ich einer Freundin von mir eine Wimper aus dem Gesicht streichen wollte. Ich berührte sie nur ganz leicht an der Wange und da überkam es mich. Ich sah und fühlte alles, was sie jemals in ihrem Leben gesehen und gefühlt hatte. Und auch sie sah und fühlte alles, was ich jemals gespürt hatte. Es war grauenvoll. Alle geheimsten und intimsten Momente teilten wir mit nur einem Wimpernschlag und ich sah Dinge, die mich nichts angingen. Wie sie mit dem Lover ihrer Mutter schlief und wie sie es schmerzte zu sehen, wie er und seine Mutter sich küssten. Die unendliche Wut und Trauer, die sie bei ihrer Hochzeit verspürte." Alice verstummte und holte tief Luft, um weiter zu sprechen.

"Nach diesem Moment hat sie mich gehasst und ich wusste nicht einmal,  wie ich es gemacht hatte. Jeden, den ich berührte , übermittelte ich Gedanken und Gefühle oder sah die ihren. Egal wie sehr ich mich bemühte, diese Fähigkeit zu unterdrücken, es gelang mir nicht. Wie du dir vorstellen kannst, bekamen die Menschen, die mich umgaben, Angst vor mir, denn sie dachten, dass ich ihre dunkelsten Geheimnisse offenbaren könnte. Selbst meine Eltern und Geschwister hassten mich."

Alice zog die rechte Schulter ihres T-Shirts ein Stück beiseite und entblößte eine tiefe Narbe in der Form eines Schnittes. Langsam fuhr sie mit ihren Fingern über die Wölbung. "Das war meine Mutter. Sie hatte mit einem Fleischermesser nach mir geworfen, nachdem ich nur durch eine unbeabsichtigte Berührung erfahren hatte, dass sie meinen Vater betrog und mit dem Gedanken spielte, meinen Vater und unsere Familie zu verlassen. Danach war ich für meinen Vater und meine Geschwister diejenige, die unsere Familie zerstört hatte. Und so lief ich von zuhause fort, unwissend, dass die Jäger bereits hinter mir her waren. Weit kam ich jedoch nicht. Luc und die anderen sammelten mich zum Glück vorher ein. Sie wussten bereits, wer ich war und was mit mir passierte und ab da an ging es mir von Tag zu Tag besser. Jetzt habe ich eine neue Familie und weiß, wie ich mit meinen Fähigkeiten umzugehen habe und dass ich kein Monster bin, sondern etwas besonderes, so wie der Rest von uns. Für mich sind Lucas, Claire, die Zwillinge und Jeremy meine Familie und ich liebe jeden einzelnen von ihnen, auch wenn sich Luc und Claire manchmal daneben benehmen, im Grunde Ihres Herzens sind sie verständnisvolle und hilfsbereite Menschen.", sagte sie lächelnd und rückte ihr T-Shirt wieder zurecht.

Ja, ganz tief in ihrem Herzen bestimmt, dachte ich sarkastisch, konnte Alice' Gefühle aber natürlich nachvollziehen. Sie liebte sie und ich fand das war eine wunderbare Sache, nachdem man von der eigenen Familie so verstoßen wurde. Alleine bei dem Gedanken, meine Mutter Hope könnte auch nur versuchen, mit einem Messer nach mir zu werfen, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Und Gereg? Naja, er war Gereg, aber er würde mir niemals, unter keinen Umständen, etwas antun. Er würde mich verteidigen bis aufs Blut, selbst vor Hope und Jim.

"Das ganze tut mir leid.", flüsterte ich, weil ich nicht wusste, was man bei so einer Geschichte erwidern sollte. Hätte ich sie in den Arm nehmen und drücken sollen? Ihr sagen sollen, dass ich ihre Eltern verachtete für das, was sie ihr angetan hatten? Ich wusste es nicht, aber ich war mir sicher: Nichts davon hätte ihr geholfen.

"Schon gut. Du kannst ja nichts dafür und ich bin auch schon darüber hinweg. Ich hege keinen Groll mehr gegen meine Familie, ich bemitleide sie nur noch und bin dankbar, eine neue, echte Familie gefunden zu haben. Und ich hoffe du wirst eines Tages dazu gehören." Mit diesen Worten wandte sie sich von mir ab und bückte sich nach dem letzten, auf dem Boden liegenden Teller.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWhere stories live. Discover now