Kapitel 1

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Regel Nummer Drei:

Zweifeln Sie niemals an Ihrer Wahrnehmung der Realität.

12. Mai, 16:42 Uhr

Gegenwart

An einem bienenschwirrenden Frühlingstag, der bereits die erste stickige Hitze des Sommers in sich trug, musste Ben sich eingestehen, dass die Welt wirklich und wahrhaftig aus den Fugen geraten war.

Es hatte eine Weile gedauert, bis er zu diesem Schluss gekommen war. Schließlich war es nicht leicht, sich von all dem zu verabschieden, was man bisher als Gewissheit angesehen hatte. Neben einer kleinen Ewigkeit an Geduld brauchte man dafür eine ganze Reihe aus Zaunpfählen, die einem eifrig zuwinkten.

Mittlerweile jedoch beschränkte sich die ungesehene Präsenz, die ihm das Leben erschwerte, nicht länger aufs Winken. Sie prügelte ihm vielmehr den gesamten Zaun um die Ohren und das Tag für Tag. Leider – und Ben bedauerte es sehr, sich dies einzugestehen – deuteten alle Indizien darauf hin, dass er irgendwann während der vergangenen Wochen ... na ja, wie drückte er es am besten aus?

... Plemplem geworden war. Bescheuert. Durchgeknallt. Irre. Grenzdebil, umnachtet, schwachsinnig. Und das passte ihm momentan überhaupt nicht in den Kram. Eigentlich hatte er gehofft, mit dem Wahnsinn bis nach seiner Ausbildung warten zu können. Und so war es auch, dass sich seine letzte Hoffnung an dem Gespräch festklammerte, das sich in diesem Moment abspielte. Man hofft immer dann, im Unrecht zu sein, wenn man Übles ahnt.

Während sich Ben im Kopf seine nächste Frage zurechtlegte, entwickelten seine Sinne ein Eigenleben. Sie stießen ihn von innen heraus an wie glühende Zahnstocher, um ihn mit irgendwelchen Unwichtigkeiten abzulenken. Die Küche riecht nach Donuts!, versicherte ihm sein Geruchssinn. Stimmt. Und Donuts, das musste er zugeben, waren niemals unwichtig. Aber auf pfui, aus deinen Haaren tropft noch immer Wasser! Du bist über zwei Jahrzehnte alt und hast keinen blassen Schimmer, wie man einen Föhn benutzt? hätte er gut verzichten können. Seine Haut ließ sich leider nicht einfach so ruhig stellen. Jetzt klebt auch noch das T-Shirt an mir ... uäääh, ist das eklig. Ich wünsche mir das Handtuch zurück. Oder die schöne warme Dusche.

Hunger, plapperte der Magen gefräßig dazwischen. Hunger auf Donuts!

Klappe, allesamt!, fuhr er im Stillen dazwischen. Von der Antwort, die er gleich erhalten würde, hing immerhin seine gesamte geistige Gesundheit ab.

„Und, äh ... du bist dir sicher, dass du den Zahnpastadeckel wieder auf die Tube gedreht hast, als du mit Zähneputzen fertig warst?", erkundigte er sich schließlich erneut. Dabei versuchte er, einen gelangweilten Gesichtsausdruck aufzusetzen und die Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Es wollte nicht recht gelingen. Vielleicht lag es daran, dass er mehrere Sekunden gebraucht hatte, um sich die Worte zurechtzulegen. Deshalb hatte sich in der Zwischenzeit eine atemlose Spannungspause gebildet.

Es folgte eine bedeutsame Stille. Diese versicherte ihm, seine Anschuldigung sei eine der haarsträubendsten, die in der langen Geschichte der Menschheit jemals ausgesprochen worden war. Linus, der an der anderen Seite des Tischs saß, kniff die Lippen zusammen, bis sie so schmal waren wie eine schmollende Mondsichel. Ein blasser Strich des Missfallens, den Ben nur allzu gut kannte.

Es war nicht immer leicht, mit Linus zusammenzuwohnen. Nicht nur deshalb, weil er Student war und somit ziemlich verfressen, sondern auch, weil es sich bei ihm um die fleischgewordene Definition eines Perfektionisten handelte. Student hin oder her, Linus würde es niemals im Leben einfallen, den Deckel nicht wieder auf die Zahnpastatube zu drehen. Abgesehen von dubiosen Tofu-Kochkünsten verwendete er seine Energie am liebsten dafür, all seine Socken nach Muster, Farbe, Länge und Stoffbeschaffenheit zu arrangieren. Und dazu auch gleich das Bücherregal, die DVD-Sammlung und den Zeitschriftenstapel im Klo zu ordnen – alphabetisch, verstand sich. Sobald Linus ins Eisfach spähte, blieb nur zu hoffen, dass sich die Erbsenpackung nicht zärtlich an das Vanilleeis schmiegte, denn es erfüllte ihn mit göttlichem Zorn, wenn sich im Kühlschrank das Essen berührte. Vermutlich wartete er er in diesem Augenblick nur darauf, dass Ben den Blick abwandte, damit er endlich die Zuckerstreusel auf den Donuts sortieren konnte. Misstrauisch kniff Ben die Augen zusammen und steckte die Hand schützend in die Donuttüte, deren unnötig lautes Papierrascheln das demonstrative Schweigen brach, als er das Gebäck herauszog.

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⏰ Dernière mise à jour : Jun 03, 2018 ⏰

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