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Ich beeilte mich, das Heckenschneiden möglichst schnell zu beenden, um vielleicht noch ein Trinkgeld zu erhalten. Als ich endlich fertig war, eilte ich in die Villa unserer Auftrageber, um meinem Zwillingsbruder Barred zu helfen, der noch das Geschier spühlen musste.

"Yora?", fragte Barred, "Was machst du hier?"

"Ich bin fertig draußen und wollte dir helfen", erklärte ich.

"Du hast schon doppelt so viel gemacht, wie ich", entgegnete er, "Außerdem bin ich gleich fertig", und mit einem Grinsen fügte er hinzu: "Wenn du mir hilfst, brauche ich eh länger"

Zugegeben, da hatte er leider Recht, denn in so ziemlich allen, wozu man soetwas wie Feinmotorik brauchte, war ich gnadenlos schlecht. Daher übernahm ich auch immer die Gartenarbeit.

Barred stellte den letzten Teller in den Schrank und krempelte seine Ärmel herunter. Gemeinsam gingen wir in den Salon der Zweier, in deren Haus wir arbeiteten, um unseren zwei Jahre jüngeren Bruder Jem und das Gehalt abzuholen.


Als wir nach Hause kamen, eine alten, kleinen Hütte am Stadtrand, die vom vierten Weltkrieg leicht zerstört wurde, rannte Kristopher, mein sechsjähriger Bruder, schon auf uns zu und sprang Barred in die Arme. Ich lächelte kurz zu ihnen herüber. Es wunderte mich nicht, dass er lieber zu unserem Bruder ging, Barred er war immer der Sanfte und ich die Starke, die niemals verzweifelte oder auch nur das kleinste Gefühl zeigte, jemand musste sich ja um alles kümmern und da waren Gefühle nun mal fehl am Platz.

Ich folgte meinen Brüdern, die durch den schmalen Flur in die Stube gingen. Zu meiner Überraschung saß dort mein Vater, der zuvor wochenlang wegen seiner Krankheiten ans Bett gefesselt war, auf dem alten Sofa neben meinem letzten Bruder, dem zehnjährigen Dougless.

Als Barred und ich eintraten, riefen er und meine anderen Brüder laut: "HAPPY BIRTHDAY!"

Barred und ich lächlten uns an - uns beiden war klar, dass wir zu unserem Geburtstag nicht mehr erwarten brauchten, so war es nun mal als Sechs. Ich hasste diese Einteilung in Kasten sogar noch mehr als die Staatsform der Monachie, die ebenfals beimuns herrschte. Unser Schicksal wurde hier danach festgelegt, wo man geboren war, und nicht nach unseren Fähigkeiten.

Mein Dad stand sogar auf, um uns zu umarmen.
"Jetzt seit ihr schon 17, noch ein Jahr, dann sind meine großen erwachsen", murmelte Dad, "Wenn eure Mutter nur hier wäre...", er seufzte schwer.

Unsere Mutter war vor fast fünf Jahren bei einem Autounfall gestorben, ein betrunkener Mann hatte sie überfahren. Dieser saß jetzt im Gefängniss oder gehörte jetzt der achten Kaste an, das weiß ich nicht so genau. Was ich aber wusste, war, dass ich meine Mutter nicht so sehr vermisste, wie ich es eigentlich sollte. Vielleicht lag es daran, dass sie immer mit anderen Dingen beschäftigt war, als mit mir oder daran, dass sie mich nie so geliebt hatte wie meine Brüder.

Dad ließ sich wieder auf die Coach fallen, anscheinend war der kurze Moment, in dem er stand, schon zu anstrengend gewesen. Aber er ließ sich nichts anmerken und reichte mir stattdessen einen Brief.

"Was ist das?", wollte ich wissen.

"Der ist vom Königshaus gekommen und an dich addressiert", erwiederte Dad gut gelaunt.

"Vom Königshaus? Was wollen die denn?", fragte Jem neugierig.

"Ich kann's mir schon denken", schmunzelte Dad.

Ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, was mich jetzt erwartete und hätte ich es gewusst, hätte ich den Brief wohlmöglich nicht geöffnet. Aber in diesem Moment überwog die Neugierde.

Ich öffnete den Umschlag und zog das schwere Papier hervor, es waren zwei schwere Papiere, ein Formular und der Brief. Diesen nahm ich mir zuerst vor. Darin stand, dass der Prinz vor kurzem 18 geworden war und somit aus jeder der 35 Provinzen Illeás ein Mädchen zwischen 16 und 20 Jahren ausgelost werden sollte, damit es mit den anderen Mädchen im Palast des Königs in einem Casting um die Hand des Prinzen konkurrierte. Anscheinend durfte ich mich für die Auslosung bewerben.

Okay vielleicht stand es nicht genau so da, aber das war im Grunde die Kernaussage des Briefes.

Eigentlich hätte es gereicht einfach zu schreiben: Der Prinz ist jetzt 18. Sie können sich zum Casting bewerben.
Dann hätten sowieso alle Bescheid gewusst, aber egal.

Barred, der über meine Schulter mitgelesen hatte, rief begeistert: "Wenn du auch nur zu den gecasteten gehörst, können wir mit der Entschädigung monatelang auskommen!"

Ich wollte ihm gerade erklären, dass ich mich ganz sicher nicht bewerben würde, doch dann fiel mein Blick auf meinen Vater. Halb saß, halb lag er auf dem Sofa, mit den Händen massierte er seine Schläfen und Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet - ich würde ihm also gleich wieder ins Bett helfen müssen. Dennoch lag in seinen Augen etwas, dass ich seit mehr als fünf Jahren nicht gesehen hatte: Hoffnung. Hoffnung darauf, uns ein besseres Leben zu ermöglichen.

Das war der Moment, in dem ich beschloß, am Casting teilzunehmen, denn die Liebe zu meinem Vater, dem ich mit dem Geld vielleicht wirksame Medizin ermöglichen könnte und meinen Brüdern, die jeden Tag mit Hunger leben mussten, war größer als mein Hass auf das Königshaus.


The Selection ~ Yora's GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt