Prolog

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Regel Nummer Eins: Schließen Sie Ihren Geist nicht ins Herz. 

Regel Nummer Zwei: Was auch immer Sie tun, beachten Sie unbedingt Regel Nummer Eins. 

~

Der Junge schlief.

Während die Minuten seines fedrig weichen Schlummers verstrichen, wurden die Schatten im Raum länger. Sie krochen über den tiefgrünen Teppichboden und verfingen sich in der Dunkelheit, deren erste Ausläufer bereits unter dem Bett hervorlugten. Finsternis machte sich breit. Ranken aus Schwärze griffen nach seiner Hand, die gerade außerhalb ihrer Reichweite über der Bettkante baumelte. 

Als die Nacht hereinbrach, war vom Tosen und Brüllen des untergehenden Sonnenfeuers draußen vor dem Fenster kein Laut zu hören. Das Abendlicht liebkoste mit geräuschlosen Fingern den Horizont, wie es jeden Tag hunderte Male auf der Welt geschah. Doch schon bald würde der Sonnenuntergang einem ganz anderen Leuchten weichen.

Bis dahin aber würden noch einige Stunden verstreichen. Für den Moment herrschte kühles, nachtschwarzes Schweigen. Schweigen und ein Stückchen geborgter Sicherheit.

Der Junge schlief. Nichts schlich sich in seinen Traum. 

~

Still jetzt. Ich weiß, was du sagen willst. Aber keine Sorge: ich gehe noch nicht. Du und ich, wir haben Zeit. 

Zeit genug, dir eine allerletzte Geschichte zu erzählen. Wo soll ich beginnen? Vermutlich am Anfang. Mit der allerersten Frage. 

Wer sind wir? 

Wir sind das, was niemand greifen kann. Wir sind, was sich der Welt entzieht, ein flüchtiger Widerhall des Lebens, der sich ungehört verliert. Wir sind das, was die Dämmerung preisgibt. All jenes, was man nur im Flüsterton verlauten lässt. 

Wir sind die Legion der Geister. 

Wir sprießen wie Pilze an dunklen, modrigen Orten – überall dort, wo Zwietracht lauert, wo das Halbfinster herrscht, wo der Tod die bleichen Finger ausstreckt, gleich einem Liebenden, der nach der Wahrheit tastet. 

Wo kein Zerwürfnis herrscht, da schaffen wir es. Denn wir sind die Legion der Geister. Wir nehmen. Mehr noch: wir stehlen, entreißen, betrügen, entlocken, entführen. Und wir sind hungrig. Immerzu. Wer nährt uns, wenn die Morgendämmerung hereinbricht? 

Wir sind das, was ihr am meisten fürchtet. 

Wir sind. 

Aber das weißt du ja bereits. 

Dies ist nicht die Geschichte meines Todes. Schon klar – enttäuschend. Aber ich will ehrlich mit dir sein: die Enttäuschung ist nur ein flüchtiger Beigeschmack der Entwicklungen, die sich nach meinem Tod abspielten. Denn obwohl uns beiden ein Ende bevorsteht, das nicht unbedingt der Inbegriff des Glücks ist, bin ich doch froh, dass die Dinge genau auf diese Weise kamen und nicht anders. Schließlich muss man manchmal, so fürchte ich, erst sterben, um zu erkennen, wo man hingehört. 

Dies ist meine Geschichte. Weder die meines Todes noch die meines Lebens, aber doch die meine. Und in vielerlei Hinsicht gehört sie auch dir. Sie beginnt in einer Nacht, in der die Welt nach Flieder duftet und endet an einem Nachmittag, der nach Schnee riecht. Seelen kommen darin vor, Fänger im Dunkel der Zeit, die Suche nach dem Jenseits, ein Fünkchen Freundschaft ... und eine vollkommen unvernünftige Liebe, die von Anfang an keine Hoffnung auf Erfüllung hatte. Ach, nun schau doch nicht so. 

Ich weiß, dass ich rührselig werde, aber so ein bisschen Gefühlsduselei ist unumgänglich, wenn ein Abschied bevorsteht.

Also beeilen wir uns. Bist du bereit? Na dann. Schließe die Augen. Stell dir vor, der Duft von Flieder kommt auf seidenen Schwingen durch das Fenster geschwebt und kitzelt dich an der Nasenspitze ...

Kann Spuren von Geistern enthaltenWhere stories live. Discover now