38 - Nacht und Tag

Start from the beginning
                                    

Sie hatte noch nicht um ihn geweint und war sich auch nicht sicher, ob sie das je schaffen würde. Ob ihre Trauer irgendwann diese unbeschreibliche Wut besiegen würde.

Denn jedes Mal, wenn Owens Tod sich in ihren Träumen abspielte, nahm sie diese wohlbekannte, bleierne Schwere in Beschlag, der nicht einmal Tränen entkamen.

Als Federicy, eine strahlend gelb gekleidete Sonne zwischen den vielen kleinen Fetzen Nachthimmel, hereinkam und laut in die Hände klatschte, schreckte Cress hoch. Rachelle kam ein paar Momente später in den Raum, gefolgt von einem weiteren Dutzend Tänzerinnen.

Wenn Cress und die Artisten in der Halle die Nacht waren, dann waren die Neuankömmlinge die Morgendämmerung. Orange, rot und rosa bemalte Körper, über die sich filigrane weiße Muster zogen, wie Zuckerguss. Gold in Haaren und auf lachenden Lippen. Nur Rachelle stach aus dieser Masse hervor, weil sie einen hellblauen Mantel trug und alles, was Cress von ihr sah, golden war. Seit Walsh mit der Stirn auf dem Bartresen gelegen hatte, hatte sich das Verhältnis zwischen Cress und der Tänzerin drastisch verbessert. Sie zwinkerte der Diebin sogar zu, als sie neben Federicy stehenblieb, die als einzige im Raum völlig schmuckloses Weiß trug. Zumindest, bis zwei weitere Schaumeister in den Raum traten. Federicy nickte den älteren Männern, die sich beide auf Gehstöcke stützten, zu. Stille war eingekehrt, als die Artisten sich ihren Vorgesetzten zuwandten.

„Ihr werdet ihnen den Atem rauben", kündete Cress Tante laut an und ließ den Blick über die versammelten Tänzer gleiten, „Die Sterne mögen Eure Füße leicht und Eure Stimmen schwerelos machen."

Der linke Mann küsste seine Finger und malte sich ein x zwischen die Schlüsselbeine, um das böse Abzuwehren. Der Rest des Saals folgte seinem Beispiel. Cress eingeschlossen.

„Ars Astrorum", rezitierte der alte Schaumeister den Wahlspruch des Hauses der Künste.

„Ars Astrorum", echoten die versammelten Artisten.

Die Tänzerinnen klopften sich gegenseitig auf die Schulter, atmeten tief durch und verließen nacheinander das Haus. Ein paar kurze Momente strich die kalte Nachtluft über Cress Haut, bevor sie in die Kutschen stiegen, die bereit standen. Ein paar Minuten zwischen blau-schwarz-goldenen Tänzerinnen verstrichen. Dann kam das Gefährt stockend zu einem Halt. Cress schloss die Augen und begann zu allen Göttern zu beten, die ihr zuhören mochten, ob sie nun existierten oder nicht, als sich die schweren Schritte von Soldatenstiefeln näherten. Ein Mann spähte durch die Tür. Er schien Cress direkt in die Augen zu sehen, als der kalte Lichtstrahl seiner Stablampe sie traf. Doch auf die kurze Blindheit, die das viel zu helle Licht zurückließ, folgten keine alarmierten Schreie. Wieder knirschte Kies unter den Rädern, bevor sie eines der wenigen Tore in der meterhohen Mauer zum blauen Bezirk passierten.

Cress krallte die Finger in das Kissen der Kutsche. Schon wieder Samt. Sie fragte sich, ob Federicy die Bemalungen absichtlich so ausgesucht hatte, dass sie die Gesichtszüge verwischten und die nicht auffiel unter den gut genährten, aber durchtrainierten Tänzerinnen. Cress verwarf den Gedanken wieder und zwang sich, zu atmen. Niemand hier kannte sie. CARED musste noch irgendwelche Bilder der Diebin in den Datenbanken haben, doch die waren alt. Sie musste zehn oder jünger gewesen sein, als sie farblos wurde. Sie würden sie nicht wiedererkennen, schon gar nicht als Teil des Nachthimmels.

Und so drückte Cress den Rücken durch und beobachtete, wie vor dem Fenster die blau erleuchtete Grenze im Abendlicht vorbeizog. Sie fuhren über eine einfache, aber hell erleuchtete Straße den Hügel hinauf, auf dem der Palast und die zwei Türme erbaut worden waren, bis sie irgendwo auf der hinteren Seite des Palasts, der sich blau erleuchtet, glatt und perfekt wie Glas in den Himmel erhob, anhielten. Irgendwo zu ihrer linken musste der Berg steil abfallen, wo die Schienen der Caz Kristall Mienen in den Kern führten. Die Mienen, die nicht mehr im Kernbezirk lagen, sondern in den Wäldern, die hier an selbigen angrenzten, kannte sie. Doch de Palast hatte die Diebin noch nie aus so geringer Entfernung gesehen. Cress versuchte nicht allzu auffällig an dem blauen Monstrum hinauf zu starren. Wie sollte sie innerhalb von zwei Tagen das Schwert an diesem Ort finden? Und noch viel wichtiger: Wie bei den Sternen sollte sie hier wieder herausfinden?

Gänge zogen an ihr vorbei, nicht halb so fein wie sie erwartet hatte. Die Artisten landeten in einem Raum ohne Fenster, in dem sich Cress sofort eingesperrt fühlte. Nackte Steinwände und noch mehr Samtsofas nahmen sie in Empfang.

Rachelle zupfte Cress am Ärmel und zog diese hinter einen roten Vorhang.

„Hör zu, du gehst jetzt da hinaus ...", sie deutete auf die Tür, vor der wir standen. „Du setzt dich auf den Platz neben Madame Federicy und bleibst dort. Du bist eine Ersatzbesetzung. Bleib bis zum Ende unserer ersten Vorstellung, dann musst du zum Umschminken kommen. Nach Mitternacht gibt es eine Luftakrobatik Vorstellung und bis dahin servieren diejenigen, die nicht mehr gebraucht werden. Sei zum Umschminken da. Die Tänzerinnen, die nicht für die Nacht eingeteilt sind, werden dann wieder geholt. Alles klar?" Leise Musik drang durch die Tür.

Rachelle tat, als ob sie Cress auf die Schulter klopfen würde, berührte sie aber nicht und grinste dann unerwarteterweise.

„Nicht, dass die Farbe verwischt."

Sie verschwand mit einem Lächeln, bei dem ihre erstaunlich weißen Zähne aus dem Gold hervorblitzten.

Cress schloss für einen Sekundenbruchteil die Augen. Sie hatte den farblosen Bezirk überlebt. Der Kernbezirk würde sie nicht umbringen. Sie riss die Augen in dem Moment auf, als sie die Tür öffnete und fühlte sich, als wäre sie direkt in einen ihrer wildesten Träume spaziert.

SkythiefWhere stories live. Discover now