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«Loben?», wiederholte Lucy trotzig. «Wie kommst du darauf, dass ich ihn loben werde? Ich bin eine Halbdämonin!»

«Sccht!», machte ihre Freundin entsetzt und schaute sich im Korridor um. «Das darfst du doch nicht so laut sagen?»

Lucy lehnte sich gegen das Fensterbrett hinter ihr und blickte ihre Freundin Gina gelassen an. «Ach komm, das hört doch keiner hier.» In der Tat war es nicht offiziell, wer Lucys Vater war. Bei vielen würde das zu Abneigung oder gar Angst führen, wenn sie erfahren würden, dass ihr Vater niemand anderes als Luzifer war, der gefallene Engel – der Teufel. Aber Gina war da etwas anders, sie wusste von Lucys Herkunft und auch von ihrer Aufgabe auf der Erde.

Denn ihr Zusammentreffen war damals nicht so harmonisch gewesen. Lucy hatte Gina bestrafen müssen, weil die 20-jährige Frau, wie viele in ihrem Alter, das vierte Gebot nicht eingehalten hatte: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Das war ihr Job auf der Erde: Leute bestrafen, die gegen die Regeln verstiessen oder eine Todsünde begingen. Damit hatte Lucy zwar schon alle Hände voll zu tun, aber um nicht zu sehr als Tochter Luzifers aufzufallen, besuchte sie nebenbei noch die Uni. Und daher kam es dazu, dass sie Gina bei ihrer ersten Begegnung in der Unibibliothek gepackt hatte und in ein Feuer geworfen. Nein, es war nicht direkt das Fegfeuer. Es war eher die kleine Schwester des Fegfeuers, eine Art des Feuers, die jeder Halbdämon heraufbeschwören konnte. Und da Gina immer noch heil vor ihr stand, war es offensichtlich auch nicht tödlich. Jedoch war es heiß und sehr beängstigend, da die Opfer nicht wussten, was da passierte. Gina hatte gedacht, ihr Lebensende sei nun gekommen und sie würde bei lebendigem Leibe verbrennen. Sie hatte geschrien, wie alle es taten, und Lucy beschimpft, wie alle es taten. Doch nach einer Weile hatte Lucy das Feuer ausgelöscht und Gina auf die Beine geholfen. Das Mädchen war unversehrt gewesen, kein Haar gekrümmt. Auch die Bibliothek stand noch ganz und keine einzige Rauchwolke verriet Lucys Tat. Je nachdem, wie häufig man schon eine Sünde begangen hatte, war das Feuer heisser oder weniger heiß. Da Gina sonst relativ brav war, hatte Lucy das Feuer sanft gemacht. Aber bei anderen Opfern musste sie ihre Kleider anschwärzen oder sogar zu anderen Bestrafungen übergehen. Das war Lucys Aufgabe und sie führte diese gewissenhaft durch. Nachdem Gina also die Bestrafung erlitten hatte, war sie nicht panisch weggerannt wie sonst alle, sondern sie war stehen geblieben und hatte mehr wissen wollen. Sie hatte so hartnäckig an Lucy geklebt, dass Lucy zum Schluss gekommen war, dass sie ihr von ihrer Identität erzählen würde und hoffen, dass sie dann immer noch nicht Reissaus nehmen würde.

So kam es, dass die beiden nun im Korridor der Universität standen und sich darüber stritten, ob Lucy einen Mitstudenten loben sollte oder nicht.

«Schau, wenn jemand etwas Gutes tut, wie unser Mitschüler, dann sagt man normalerweise 'gut gemacht!' oder so», erklärte Gina langsam und schaute Lucy in die Augen.

Lucy nickte. «Ich weiß.»

«Und... warum machst du es dann nicht?», fragte Gina verwirrt nach. Zwar wusste sie, dass Lucy nicht zu den charmantesten Personen gehörte, aber sie schien immer wieder mit ihren väterlichen Genen anzuecken.

«Weil das nicht meine Aufgabe ist!», erwiderte Lucy bestimmt. «Das können Michael oder Gabriel oder Daniel machen, nicht ich.» Die Halbengel, die auf der Erde verweilten, hatten nämlich die entgegengesetzte Aufgabe. Sie belohnten Leute, die etwas Gutes taten, die gottesfürchtig handelten. Und dabei ging es nicht darum, wie sie ihren Gott nannten, sondern einzig und allein um ihre Taten.

Gina verdrehte die Augen. «Na dann», meinte sie seufzend. «Ich geb mein Bestes.»

Lucy grinste. «Vielleicht bedankt sich Maya mal dafür», meinte sie neckisch. Maya war ebenfalls eine Halbengelin, die als Deckung ihrer Identität hier an die Uni ging.

«Das erwarte ich wirklich von ihr!», meinte Gina fordernd. Sie wusste schon ganz gut über die himmlischen Geschehnisse auf der Erde Bescheid, musste Lucy zugeben, und sie nahm es erstaunlich gelassen auf.
«Ich sprech einmal mit ihr», versprach Lucy und strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Gerade wollte sie fragen, wo der nächste Kurs begann, als ihr auf einmal heiß wurde. Augenblicklich begann sie zu schwitzen und sie zog eilig ihre dunkle Jacke aus. Keuchend versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Mist! Nicht hier!

«Alles okay?», fragte Gina verwirrt.

Lucy lief der Schweiss herunter und ihr Blut geriet in Wallungen. Sie wusste, was jetzt kam. Sie musste weg hier, schnell. «Ja, geh schon mal vor! Mein Dad will mit mir reden.»

Gina riss die Augen auf, sie schien wie festgenagelt. Statt Lucys Befehl zu befolgen und zur nächsten Vorlesung zu gehen, blieb sie stehen und starrte Lucy fasziniert an. Diese schwitzte immer mehr, sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.

«Gina! Das ist gefährlich! Geh!», rief Lucy ihr zu und gab ihr verzweifelt einen Schubs, als diese nicht zu reagieren schien. Endlich setzte sich Gina in Bewegung und Lucy rannte gleichzeitig in den nächsten Putzraum. Ihre Kleider waren schweissdurchnässt und klebten an ihr, als wäre sie in einen See gesprungen. Dann, als sie dachte, ihr Blut würde überkochen, flammte die Luft vor ihr auf. Hastig versicherte sie sich, dass die Tür zur Putzkammer geschlossen war. Keuchend lehnte sie sich gegen die Wand und starrte auf die Stelle in der Luft, an der nun eine Flamme hochschoss. Etwa auf Augenhöhe vor Lucy begann ein Feuer zu brennen und das Flackern der Flammen tauchte den Raum in gespenstische Schattenspiele. Das Feuer war warm, aber gleichzeitig kühlte Lucy wieder ab. Erleichtert wischte sie sich den Schweiss vom Gesicht und wartete, bis sich das Feuer der Hölle entfacht hatte.

«Dad!», grüßte sie dann gereizt. «Das war echt schlechtes Timing.»

Sie bekam keine Antwort, aber das hatte sie auch nicht erwartet.

Das Feuer schlug etwas höher, als gleichzeitig eine Stimme ertönte. «Ich habe eine Aufgabe für dich, meine Tochter.» Lucy fuhr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Ihre Vater-Tochter-Beziehung war nie sehr herzlich gewesen und er hatte sie noch nie 'meine Tochter' genannt. Was war das für eine seltsame Aufgabe? «Nummer 333: Bestrafung von Adrian Sky, Zorn.»

Lucy wollte schon artig nicken, als sie stutzte. «Adrian Sky?», fragte sie nach.
«Ja», hallte es durch den Putzraum, das Feuer wurde intensiver.

Lucy zögerte. Sie wollte nicht zu viele Fragen stellen oder die Aufgabe anzweifeln, auch wenn ihr der Name seltsam bekannt vorkam. Kurz überlegte sie, nachzufragen, wer das genau war. Aber die Aufgabe war klar: Bestrafung wegen Zorn. Zorn war nicht in den zehn Geboten der Christen geregelt, aber dafür noch an einer viel ernsteren Stelle. Es war eine der sieben Todessünden. Es wurde nicht jegliche Art von aufkommendem Zorn bestraft, aber sobald es zu einem anhaltenden Gefühl wurde, das auch zu Aggressionen führen konnte, geriet man auf Luzifers Liste. Und von dort aus wurde man an Luzifers Kinder auf der ganzen Welt verteilt, die sich dann eine geeignete Strafe ausdachten. Natürlich brachten sie die Sünder – noch – nicht um, denn sonst könnten sie ja nicht aus ihren Fehlern lernen. Aber bestraft wurden sie dennoch unschön.

«Okay, alles klar», bestätigte Lucy die neue Aufgabe ihres Vaters. «Aufgabe akzeptiert.»

Das Feuer flackerte kurz, als würde es winken. Dann wurde es kleiner, kälter und erlosch schließlich. Und Lucy war wieder alleine in der erkalteten, dunklen Putzkammer.

***

Das war das erste Kapitel der Kurzgeschichte.🤗 Bin gespannt auf eure Meinungen! Wie gefällt es euch bisher? Wie stellt ihr euch Adrian Sky vor?

Die sieben TodsündenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt