Misstrauen

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Kage bemerkte den Jungen erst, als er dieser ein schwaches Knurren ausstieß und sich noch enger an die Wand drückte. Dessen Atembildete weiße Wolken in der kalten Luft, sobald er den Mund zu einem warnenden Fauchen verzog und spitze, nadelartige Zähne enthüllte. Es hatte vor wenigen Minuten abermals angefangen zu schneien, dicke weiße Flocken fielen um sie herum, so dicht, dass es schwer war weiter als einige Meter in die nachtdunklenStraßen der Siedlung zu sehen. Nicht das erste mal in dieser Woche legte sichder Schnee zentimeterdick über die Stadt und hüllte alles in eine frostig kalteDecke.

Kage fror selbst durch seine gefütterte Jacke, seine Finger und Zehenspürte er schon eine Weile nicht mehr und der kalte Wind biss ihm in jedes Stück freie Haut. Er hatte es eilig, seine Spätschicht hatte eben geendet und da der letzte Bus bereits vor einer Stunde gefahren war, hatte er sich notgedrungen zu Fuß aufgemacht. Seine Wohnung lag nur etwas über zwanzig Minuten weiter, in einer ruhigen, wenn auch etwas heruntergekommenen Gegend. Das war also zu schaffen, selbst wenn er müde von der anstrengenden Schicht als Radiologieassistent war.

Heute waren, dank der Kälte und eines plötzlichen Schneeregens, einiges los gewesen. Dutzende Patienten mit Verdacht auf Frakturen an Bein, Hüfte und Armen waren eingeliefert worden. Doch es war nicht die Aussicht auf ein warmes Bett und etwas Ruhe, die ihn seine Schritte beschleunigen ließen, nicht nur zumindest. Seine Wohnung lag zwar in einem recht ungefährlichen Teil der Stadt, allerdings musste er um dort hin zukommen vom Krankenhaus aus durch einige Gebiete, die er im Dunkeln eigentlich lieber nicht betreten wollte. Normalerweise nahm ihn einer seiner Kollegen mit, dessen Weg ihn fast an Kages Haustür vorbeiführte. Doch dieser hatte sich über die Feiertage frei genommen und Kage besaß kein Auto. Er verdiente zwar nicht schlecht, aber das Leben in der Stadt war teuer und die öffentlichen Verkehrsmittel eigentlich schneller und kostengünstiger als jedes Privatauto. Nur stimmten deren Fahrpläne nicht immer mit seinen Arbeitszeiten überein. Also hatte er sich aus mangeln an Alternativen schließlich so aufgemacht, den Kopf gesenkt, so dass die Kaputze seiner Jacke ihn vor den wirbelnden Flocken schützte, die Hände in den Jackentaschen vergraben, eine Hand um seinen Haustürschlüsseln,die andere um sein Handy geklammert.

Nein, er war nicht paranoid und eigentlichhatte er auch kein Problem mit der Dunkelheit oder seiner Nachbarschaft. Aber er würde kein Risiko eingehen, zumindest nicht mehr als nötig. Er fluchte, als er auf einer spiegelglatten Stelle ins Rutschen geriet und sich hastig an einer Hauswand abstützen musste, um nicht der Länge nach hinzufallen. Der Putz bohrte sich kalt und scharf in seine ungeschützte Haut und er zog die Hand hastig wieder zurück, ärgerlich überhaupt erst ins Schleudern geraten zu sein. Danach verlangsamte er seinen Schritt und achtete sorgsamer als zuvor darauf wohin er seine Füße setzte, hatte er doch wenig Lust seinen Kollegen so bald schon wiederzusehen, dieses mal dann allerdings als Patient.

Er war so konzentriertdarauf gewesen nicht hinzufallen und gleichzeitig den Weg in dem dichten Schneetreiben nicht zu verlieren, dass er dem schmutzig grauen Stoffhaufenneben mehreren großen Müllcontainern der städtischen Müllabfuhr keinen zweitenBlick würdigte, zumindest nicht bis er über einen halbvollen Müllbeutelstolperte, der verborgen unter dem Schnee mitten auf dem Weg lag, stolperte. Mit einem überraschten Keuchen riss er die Hände aus der Jacke und schaffte es sich imletzten Moment abzufangen, bevor sein Gesicht mit dem schneeverkrusteten Boden Bekanntschaft machen konnte. Sein Schlüssel, denn er festgehalten hatte, flog klimpernd einige Meter weiter, bis er im Schnee verschwand. Kage fluchte abermals und rappelte sich auf, seine Hände schmerzhaft kalt und mit neuennassen Flecken an den Stoff seiner Hose, dort wo seine Knie mit dem Gehweg kollidiert waren.

Ganz toll, dass hatte ihm gerade noch gefehlt. Wenigstensschien er sich nicht ernsthaft verletzt zu haben, wie er nach einer kurzen Inspektion feststellte. Seine Hände waren aufgeschürft und kribbelten vor Kälte, aber ansonsten schien er auch den zweiten Sturz an diesem Abend gut überstanden zu haben. Nächstes mal rufe ich mir ein Taxi, dachte er wütend, alser sich aufrappelte und den Schnee abklopfte. Das ganze Theater wäre ihm erspart geblieben, wenn er nicht so verdammt sparsam wäre. In diesem Schneetreiben durch ein polizeibekanntes Gebiet zu marschieren, wenn Minusgerade herrschten und er dank dem ganzen Schnee in der Luft kaum etwas sehen konnte, war dämlich,dass musste er jetzt einsehen.

Wer hat gesagt, dass das System fair ist?Where stories live. Discover now