Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes

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Schmerz.
Er war gleichzeitig siedendheiss und eisigkalt. Er schien ihn im selben Moment von innen und aussen zu zerreissen. Er zerbrach in tausend Teile und zog sich zu einem winzigen Etwas zusammen, das sich selbst erdrückte.
Theodor gab es nicht mehr. Alleine der Schmerz existierte. Nur der Schmerz.
Theodor war der Schmerz.
Er war Schmerz.
Er war der Schmerz.
Und dann sah der Schmerz den Tod.
Er war zugleich Tier, Pflanze und Mensch. Er war überall und nirgendwo. Er war ein Mythos und trotzdem real. Niemand wusste etwas über ihn und doch kannten ihn alle.
Der Tod.
Der Schmerz konnte ihn sehen, denn der Tod ist für alles Sterbende sichtbar, selbst für jene, deren Sinne bereits erloschen waren.
Der Tod schritt um ihn herum und beäugte ihn aufmerksam. Seine knochigen, weissen Hände streichelten seinen Haarschopf. Eine Stimme, die wie ein erlöstes Seufzen klang, murmelte etwas. Die Worte, die der Tod sprach, schnitten durch den Schmerz wie unzählige Klingen. Und der Schmerz verstand ihn. Er war all seiner Sinne beraubt, dem Leid und Pein unterlegen und doch konnte er ihn hören, denn der Tod flüsterte die Worte einer Sprache, die jeder Sterbende kennt.
»Mein Sohn, mein Sohn. Wer bist du? Wer wirst du sein? Dein Fleisch, dein Blut, du bist ganz mein.
Bist du der eine, von dem die toten Orakel flüstern? Wird deine Seele nach dem Morden lüstern?
Wirst du mein Körper, Werkzeug, meine Waffe? Bist du endlich des vergessenen Herrschers Rache?
Vielleich, das Schicksal ist noch ungewiss. Die Berührung einer Prinzessin die Zeit zerriss.
Monate und Jahre, die Uhren ticken. In Prophezeiungen alleine Kinderaugen blicken.
Du stirbst, mein Sohn, so steht es geschrieben. Die Frage ist nur, wie weit hat dich dein Wille getrieben?
Es ist nicht sicher, du bist einer von vielen. Generationen meines Blutes, wie haben sie geschrien.
Doch du, mein Sohn, könntest der eine sein. Der eine, der zurückkehrt, tot und rein.
Wenn du überlebst, bist du der sterbende König. Auferstanden aus seiner Asche, wie ein lodernder Phönix.
Bist du der eine, mein Sohn, auserkoren zum Vernichten? Jener, um die Herrscher zu richten?
Bleibe am Leben, bis die Welten aufeinanderprallen. Wenn der Weltenbaum stirbt, wetz deine Krallen.
Vom Baum der Toten, vom Baum des Lebens, vergiss die Tugend des Vergebens.
Sei ein Held der Totenwelt. Rette die Zeit, wenn sie zerfällt.
Doch wenn das Tote bebt und aufersteht, des Eschensamens Leben sich regt, dann, mein Junge, sei gefasst, dein Vater deinen Geist erfasst.
Doch bis dahin wird viel Zeit vergehen. Die Zukunft ist noch ungeschehen.
Das Schicksal ist ein wildes Tier, unbeständig in der Wahrheit, es spielt mit dir.
Mein Sohn, mein Sohn, wer bist du? Wer wirst du sein? Dein Fleisch, dein Blut, du bist ganz mein.
Bist du der eine, von dem die toten Orakel flüstern? Wird deine Seele nach dem Morden lüstern?«
Der Schmerz wand sich im Nichts. Die Worte quälten und prägten ihn, als würde man sie in ihn hineinbrennen und einmeisseln.
Der Tod, der nun vom Menschen zum Tier geworden war, sprang um ihn herum. Sein Fell war zur selben Zeit rot wie Zinnober, Scharlach, Feuer, Blut, Rost und Purpur. Seine Pfoten waren schwarz, Schnauze, Brust und Schwanzspitze weiss. Die listigen, klugen Augen leuchteten gelb. Diese Augen... Sie kamen dem Schmerz so unsäglich bekannt vor...
Der Tod als Tier war ein Fuchs.
Reineke sprang auf den Schmerz, stiess ein leises, raues Geräusch aus und stupste ihn an, als wolle er ein Jungtier begrüssen. Dann verformte sich der Tod erneut. Sein Fell wurde hart und rau, sein Körper fest und schwer. Er wuchs zu einer riesigen, hölzernen Säule empor, die eine ungesunde, kalkweisse Farbe annahm Die Wurzeln schlugen sich in den Schmerz, bohrten sich ihren Weg durch ihn hindurch. An der Spitze der Säule trieben Zweige, die länger und länger wurden, anschwollen und zu dicken, starken Ästen wurden, die ebenfalls in Zweige aufgabelten. Gleich darauf sprossen aus dem Holz Blätter, die sich zu tausend rötlich grünen Sternen entfalteten. Neben den Blättern wuchsen auch unzählige stachlige Kugeln an den Ästen, die an Kastanien in ihren Hüllen erinnerten, nur waren diese kleiner, hatten jedoch längere Stacheln.
Schon bald war der Schmerz von den Wurzeln des Todes eingeschlossen. Sie rankten sich um ihn herum, hielten ihn fest, durchbohrten und zerfrassen ihn. Unfähig, irgendetwas anderes als den Tod wahrzunehmen, gab sich der Schmerz hin und der Tod lachte. Die Stimme, die zuvor wie ein erlöstes Seufzen geklungen hatte, durchfuhr ihn jetzt wie zahllose qualvolle Schreie.
»Dann bist du doch nur einer meiner toten Söhne. Das Lied von Leben und Tod spielt für dich andere Töne.
Dein Wille ist nicht stark genug. Der Strom der Zeit spielt mit Lug und Trug.
So geh hinfort, du bist es nicht wert. Ich warte auf meinen neuen Sohn, für den das Schicksal sich kehrt.«
Dann schloss das Wurzelnetz sich fester um den Schmerz. Die knochenbleichen Ranken erdrückten ihn immer mehr und mehr. Es wurde dunkler und dunkler und dann...
Ein Licht.
Erst ganz klein und vorsichtig wie ein Funke, der gegen sein Erlöschen ankämpfte. Dann wurde der Funke auf einmal grösser und schwebte zwischen den Wurzeln des Todes hindurch. Die Ranken schlugen nach ihm, doch die kleine Flamme war schnell. Schliesslich erreichte sie den Schmerz und wuchs. Es sah beinahe so aus, als würde das Nichts aufreissen und das Licht floss aus besagtem Riss. Die Wurzeln versuchten das Nichts wieder zuzuschliessen und rankten sich dem Licht entgegen, doch sobald die gleissende, goldene Helligkeit das bleiche Holz berührte, fing es an zu brennen und wurde zu staub. Das Licht begann den Schmerz zu liebkosen, umhüllte ihn und vernichtete den Tod um ihn herum.
Dieses wundervolle Licht... Heller als Sonne, Mond und Sterne zusammen. Heller als alles, was der Schmerz jemals erblickt hatte.
Ja, der Schmerz konnte das Licht sehen, denn das Licht des Lebens sieht jeder Sterbende, denn wenn man stirbt, ist man nicht tot. Sterben ist der Übergang vom Leben zum Tod.
Aus dem Riss im Nichts streckte sich dem Schmerz etwas entgegen. Es war ebenfalls aus Licht, nur schien es fester und stärker zu sein.
»Theodor?«
Der Schmerz hörte die Stimme, die aus dem Licht drang, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sprach.
»Theodor Stark!«
Der Schmerz wusste, dass dieses Wort etwas bedeutete. Es war ohne Zweifel sehr wichtig, nur wieso?
»Theodor, komm zu mir zurück. Bleib hier, bitte. Wach auf! Was auch immer dich umbringt, du musst es aufhalten. Kämpf dagegen an! Nimm mein Licht!«
Der Schmerz kannte diese Stimme! Ja, ganz sicher, er hatte sie schon einmal gehört, das wusste er. Aber wer sprach da?
»Theodor!«
Etwas löste sich tief im Inneren des Schmerzes. Als würde der Nebel, der seine Sinne betäubt hatte, sich lichten. Wie ein Hauch einer Erinnerung an einen vergessenen Traum.
Sein Name.
Er war nicht der Schmerz.
Er war nicht Schmerz.
Theodor.
Er war Theodor!
Theodor Stark!
Über ihm lachte der Tod erfreut auf. Es knarzte und knackte, als er erneut seine Form veränderte und wieder zum Menschen wurde. Die Früchte und Blätter lösten sich von den Zweigen, segelten und prasselten auf ihn nieder. Äste und Wurzeln zogen sich zurück. Die Säule schrumpfte.
Er, Theodor, stürzte sich auf das Licht zu. Er ergriff, was sich ihm da aus dem Riss im Nichts entgegenstreckte. Eine Hand. Eine zierliche, aber golden leuchtende Hand.
In dem Moment, als er die goldene Hand zu fassen bekam, explodierte der Riss. Eine Schockwelle raste über das Nichts und durch Theodor hindurch.
Er schrie.
Wieder.
Doch dieses Mal nicht vor Schmerz, sondern aus Freude. Denn daraus bestand dieses Licht. Aus Freude, Güte, Liebe, Glück, Helligkeit, Hoffnung, Mitgefühl, Sonne und Energie. Reines, pures Leben. Wie eine Essenz daraus.
Das Licht durchflutete ihn und vertrieb das Nichts um ihn herum. Theodor konnte nicht widerstehen und drehte den Kopf zu dem Mann, der es dem Nichts gleichtat und sich zurückzog.
Er war etwas grösser als Theodor. Seine Kleidung war tiefschwarz, bis auf einen roten Umhang, der aus Fuchsfellen zusammengenäht zu sein schien. In einer seiner Hände lag eine grosse Sense. Der Stiel bestand aus einem langen, dünnen Knochen. Von wessen Lebewesen der stammen konnte? Die Klinge der Sense schien aus Kupfer zu sein, denn sie glänzte rötlich im Licht. Die Haare des Todes waren sehr dünn, braun, glatt und schulterlang. Seine Gesichtszüge waren gleichermassen schön als auch brutal. Hart und markant, als hätte es jemand in Stein gemeisselt. In Kalkstein, denn die Haut des Todes hatte eine ungesunde, graue Farbe. Als der Mann lachte, traten seine spitzen Wangenknochen stark hervor, was das schmale Gesicht an einen Totenschädel erinnern liess. Die Augen, die in tiefen Höhlen lagen, blitzten ihn an. Sie waren gelb, fast golden wie... wie Bernstein.
»Bis bald, Mein Sohn, wir sehen uns wieder. Nicht lange und man singt von Leben und Tod, diese grausamen Lieder...«
Ein letztes Mal lachte der Tod. Ein Laut, der wie das Weinen Tausender klang. Und dann holte das Licht den Mann ein und er fing an zu brennen. Trotzdem lachte er weiter, lichterloh brennend, bis er zu Asche zerfiel und selbst dann hallte dieses grausige Geräusch weiter in Theodors Kopf wider...
Doch das war jetzt egal, denn da war ja noch dieses wunderbare Licht. Er liess sich von dem gleissenden Leben einhüllen und durchfluten. Er jubelte vor Glück. Den Kopf in den Nacken gelegt, genoss er diese wundervolle Helligkeit und Wärme. Es war ein solch berauschendes Gefühl... Die reinste Droge und er wollte, es würde niemals aufhören.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now