Großstadtgeflüster

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Ich sitze in der U-Bahn. Ich fahre schon eine ganze Weile und dennoch nicht lange genug, um an meinem Ziel zu sein. Mein Blick streift umher und möchte sich an einem Punkt fixieren, doch wo? Ich kann schließlich nicht einfach einen der vielen Menschen anstarren. Das wäre seltsam. 

Während mein Blick so schweift, fällt mir etwas auf. Die Geräusche um mich herum werden zu einem einzigen Klang und ich habe das Gefühl, die einzige zu sein, die es hört. Die vielen leisen Stimmen, ein lautes Lachen, das Rattern der Räder auf den Bahnschienen. Und ich mittendrin. 

Eine ältere Dame versteckt ihr stark geschminktes Gesicht unter einem großen Hut, die edlen Handschuhe und das prächtige Kleid lassen sie wie eine Engländerin wirken. Vornehm und irgendwie...spießig. Aber elegant und eine schöne Ausnahme zwischen den gruseligen Gestalten, die sonst so am Abend in der U-Bahn meine Gesellschaft ausmachen. 

Vor mir sitzt ein kleiner Junge mir seiner Mutter. Ich schätze ihn auf ein Alter von höchstens 5 Jahren.  Er summt leise ein Lied vor sich hin, wackelt auf dem Sitz hin und her und stößt immer wieder mit den baumelnden Beinen gegen den Sitz neben mir. Die Mutter starrt auf ihr Display. Während wir in einen Bahnhof einfahren, sieht der Junge etwas. "Sieh nur, Mami!" Doch Mami sieht nichts außer ihr digitales Leben. Bei der nächsten Station steigen sie aus. Die Mutter hat nicht ein Wort mit ihrem Kind gewechselt und  den kleinen Jungen lediglich hochgezogen, als ihr einfiel, dass sie in der realen Welt aussteigen müssen. 

Auf den leergewordenen Platz setzt sich ein älterer Herr im Anzug. Er trägt Hosenträger und eine Melone auf dem Kopf - wie aus einem alten Film entsprungen. Ich kenne ihn. Ich sehe ihn hier öfter, denn ich fahre diese Strecke fast jeden Tag. Er nickt mir höflich zu und ich lächle. Er ist immer allein. Er arbeitet wahrscheinlich nicht, denn dafür wirkt er zu alt. Trotzdem fährt er hier immer lang. Vielleicht hat er eine Freundin. Eine Frau wahrscheinlich nicht, zumindest hat er keinen Ring am Finger. Vielleicht ist sie verstorben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er die Menschenmenge sucht, um nicht ganz allein zu sein. Gesellschaft ist wichtig. Ein Mitgefühl keimt in mir auf. Ich möchte nicht, dass Menschen allein sein müssen. 

Jemand hält mir einen kleinen Kaffeebecher unter die Nase. Ich rieche den Alkohol und den Dunst eines ungewaschenen Menschen. Der Mann, der ihn mir hinhält, ist noch jung. Vielleicht dreißig. Ich frage mich wie so oft, warum dieser Mensch obdachlos ist. In unserem Staat muss niemand auf der Straße leben. Weiß er das nicht? Möchte er einfach nicht abhängig sein? Hat er Familie? Hat er Freunde? Und wenn ja, wo sind sie nun? So viele Fragen sammeln sich in meinem Kopf.  Ich gebe Obdachlosen Geld. Aber nur, wenn sie es in Essen oder ein Tier investieren und nicht in ihren Alkoholkonsum. Also lasse ich den Blick einfach gesenkt, dann gehen sie meist weiter.

Wir begegnen jeden Tag so vielen Menschen und wissen nichts über sie. Ich würde gern ihre Geschichten erfahren. Doch sie danach zu fragen, traue ich mich nicht.



GedankengängeWhere stories live. Discover now