Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals

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~Mile~

Hastig wich er einem farbeimerschleppenden Maler aus, der von zwei Bediensteten verfolgt wurde, die jeden Klecks Farbe, der über den Rand schwappte, lauthals tadelnd wegschruppten, bevor er auf dem Marmor eintrocknen konnte.
Der 42. Stock des Zeitpalasts war noch immer eine Baustelle. Mit dreiundzwanzig Schüssen hatte Captain Falk James Jones Hook sich vor drei Monaten Zutritt zur Schatzkammer des Zeitpalasts verschafft. Nicht einer hatte jemanden verletzt, was auf die erstaunliche Planung des Piraten zurückzuführen war, nur der Schaden am Palast war nicht ohne. Die Kugeln hatten genug Durchschlagskraft gehabt, um nicht nur die Fassade, sondern auch einige Wände im Inneren des Palasts einzureissen.
Das Gröbste war mittlerweile wieder repariert worden, nun mussten nur noch die Wände neu gestrichen werden...
»Warum lässt sie ihn hier aufbewahren?«, fragte ihn die Rote, nachdem der Handwerker mitsamt seiner nörgelnden Gefolgschaft an ihnen vorbeigezogen war. »Ich verstehe ja, dass man ihn nicht wie andere... Tintenwesen oder was auch immer er jetzt ist, ins Inkoleum bringen kann, aber in der Schatzkammer?«
Mile schüttelte nur den Kopf. »Ich führe diese Diskussion täglich mit ihr, aber sie sagt, es macht ihr nichts aus.«
Red schüttelte den Kopf und seufzte tief. »Ich mache mir richtig Sorgen um sie. Wann war sie das letzte Mal draussen in der Stadt? Sie kauert ständig nur an seinem... Totenbett...«
Mile presste die Lippen aufeinander. »Red, sie... ist völlig verzweifelt. Sie klammert sich an diesen winzigen Brocken Hoffnung, den sie mit aller Kraft bewahrt... Ich würde vermutlich dasselbe tun, lägest du an Falks Stelle.«
»Natürlich, aber jeden Tag da drin zu kauern...« Sie nickte in Richtung der grossen Tür der Schatzkammer des Zeitpalasts, die von einem breitschultrigen Zwerg, einem Hügeltroll und einer Chimäre, die mit ihren drei Köpfen in jede Richtung Ausschau halten konnte, bewacht wurde. »Versteh mich nicht falsch, aber das würde ich mir für dich nicht wünschen. Und Falk hatte sich das für deine Schwester sicher auch anders vorgestellt.«
Seit Falks Einbruch waren die Sicherheitsvorkehrungen natürlich verschärft. Noch mehr Wachen, dickere Mauern, noch mehr Schutzzauber und die Mentalität «Erst schiessen, dann reden». Ausserdem waren jetzt die einzigen, die die Schatzkammer ohne weiteres betreten durften, die Herrscher. Alle anderen mussten entweder Miles oder Sabrinas persönliches Einverständnis haben – was bedeutete, dass man dafür immer in ihrer Begleitung vor der Kammer auftauchen musste – oder einem Pass, der nur vom Senat ausgestellt werden konnte und nur einmal gültig war. Somit waren die Schätze in der Kammer beschützt und das gesamte Übel dieser Welt, eingesperrt in den Körper eines vom Schicksal erkorenen Helden, sicher.
»Und ich habe mir vorgestellt, dass wir am Ende alle quicklebendig auf einem der dreihundert Balkone des Palasts hocken und von Falks Rum nippen. Was soll ich denn machen? Ich...« Seine Stimme brach und er hatte Mühe, die Tränen zurück zu halten. »Wie soll ich ihr diese Hoffnung jetzt nehmen?«
»Ich weiss, ich weiss, aber... Ich glaube, du solltest mit ihr reden...«
»Das würde sie umbringen«, widersprach er.
Red nahm seine Hand und drückte sie fest. »Du bist ihr Bruder. Niemand kennt sie so wie du. Wenn jemand die richtigen Worte findet, dann du. Aber sie muss...« Ihre Miene verzog sich schmerzlich. »Sie muss ihn loslassen.«
Mile bliebt stehen. Sie befanden sich noch ausser Hörweite der Wachen, trotzdem senkte er die Stimme. »Rede du mit ihr!«
Sie lächelte traurig. »Du bist ihr Bruder. Ausserdem habe ich einen Termin bei Valyn.«
Besorgt runzelte er die Stirn. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist in der letzten Zeit öfter mal schlecht, ich will nur sicher gehen, dass es nicht die Pestilenz ist.«
Er nickte und kaute nachdenklich auf seiner Wange. »Sabrina ist stark. Sie schafft das und sie... arbeitet daran...«
Die Hybridin legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du hast recht, sie ist stark, aber... das ist kein normaler Verlust, Mile. Lass es mich so erklären: Du hast doch auch schon einmal jemanden an den Tod auf Zeit verloren.«
Er nickte. »Nebelfinger, Hänsel, Drosselbart...«
»Was ist der Unterschied im Umgang mit einem toten Sterblichen und einem toten Tintenwesen?«
Mile runzelte die Stirn. »Nun... sterbliche Tote bestattet man und Tintenwesen bahrt man im Inkoleum auf.«
»Warum stellt man sterbliche Tote nicht auch in Glassärgen aus?«
Er verzog das Gesicht. »Würde keinen Sinn machen, oder? Schliesslich ist ihr Tod ewig.«
Sie nickte nur. »Genau. Bei Tintenwesen ist das natürlich etwas anderes. Ist der Tod auf Zeit überwunden, stehen sie wieder auf und wandeln wieder unter den Lebenden. Doch man könnte sie doch trotzdem in einen gewöhnlichen Holzsarg stecken und irgendwo lagern, wo sie platzsparender aufbewahrt werden können, oder? Warum tut man das nicht?«
Er zuckte die Schultern. »Weil es respektlos wäre?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst die toten Tintenwesen immer besuchen. Du kannst sie jederzeit sehen. Sie bleiben dir greifbar. Das schürt zu Beginn deine Trauer, das Vermissen und das ist schlimm, aber du kannst dir bewusst sein, dass sie irgendwann zurückkehren werden.«
Mile ging ein Licht auf. »Sabrina kann das auch. Sie sieht Falk jeden Tag. Aber sie kann nicht auf sein Erwachen hoffen.«
»Sie quält sich. Er atmet, er hat einen Puls, aber er ist weg! Sie hat ihn schon einmal sterben sehen und hat ihn – wohl weil das Schicksal es so wollte – zurückholen können... Sie kann seinen Tod nicht wahrhaben, sie glaubt noch immer daran, ihn irgendwie retten zu können.«
Mile biss sich auf die Wange und drehte sich wieder in Richtung der Tür, von wo aus der Schlangenkopf der Chimäre ihm entgegenzischte. »Sie muss ihn loslassen...«
Seine Gefährtin nickte. »Wenn sie das nicht tut, wird es sie irgendwann den Verstand kosten.«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt