Diskussion [Edward Cullen]

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Geräuschlos ging ich zum Fenster, warf noch einen letzten Blick – für diesen Moment – auf ihr wunderschönes Gesicht, dann stieg ich auf den Fenstersims, sprang herunter und rannte. Ich würde mich nur schnell umziehen. Keine fünf Minuten würde es dauern, dann könnte ich sie wieder sehen. Vielleicht sollte ich gleich meinen Rucksack mitnehmen, es sähe ja merkwürdig aus, ohne in die Schule zu gehen. Vielleicht fahre ich gleich mit meinem Auto …

Naja, auf jeden Fall musste ich mich beeilen. Ich wollte nicht, dass sie aufwachte und mich nicht vorfand. Schon allein der Gedanke an ihr verletztes Gesicht, wenn sie dachte, ich hätte sie erneut verlassen … Nein, einfach nur beeilen, von niemandem aufhalten lassen und dann schnell wieder zu Bella …

„Na, nichts Besseres zutun als dich an diesem Menschenkind zu vergreifen?“

Rose!

Meine Gedanken waren die ganze Zeit bei Bella gewesen, sodass ich vollkommen ignoriert hatte, wer da in einer dunklen Ecke der Halle auf mich wartete. Als sie aus den Schatten trat, wehte ihr langes, blondes Haar im Luftzug, der durch die Öffnung der Tür hineingeschlichen hatte. Ihre goldbraunen Augen waren auf mich geheftet, Missachten und Zorn spiegelten sich in ihnen wider. Das auf die Menschen so atemberaubend schön wirkende Gesicht war vor Wut zu einer beängstigenden Grimasse verzerrt. Mit leisen Schritten kam sie auf mich zu, niemand sonst war bei uns.

„Was willst du?“, raunte ich sie an.

Warst du bei ihr?, fragte sie in Gedanken.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Sonst scherte sie sich doch auch um niemand anderen als um sich selbst.

Rosalie lachte laut auf. Es geht mich eine Menge an, schrie sie innerlich. Jede Menge.

„Das glaube ich nicht.“

„Glaub doch, was du willst!“ Ihre hohe, trällernde Stimme hallte an den Wänden wider. „Nur bin ich mir sicher, dass es uns alle etwas angeht. Carlisle, Esme, Alice, Jasper, Emmett und mich. Du gefährdest nicht nur deine Existenz, sondern auch die unsere. Hast du dir auch nur einmal ausgemalt, was passiert, wenn du die Kontrolle verlierst? Natürlich hast du das, warum wärst du sonst gegangen. Doch hast du auch daraus gelernt? Bist du dir darüber im Klaren, welcher Gefahr wir ausgesetzt sind, wenn du ihrem Duft nicht widerstehen kannst, wenn sich deine spitzen Zähne in ihren Hals graben und deine Zunge an ihrem Blut leckt? Ob du das mit deinem Gewissen ausmachen kannst, ist mir herzlich egal, mir geht es nur um die Familie. Doch du, du denkst nur an dich, an dein Glück – oder was dieses Mädchen auch sonst noch bei dir auslöst – und daran, wie du uns in den Ruin stürzen kannst!“

All das sagte sie in einem Atemzug und ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Aber ich war nur unwesentlich, wenn nicht sogar überhaupt nicht überrascht. Im Gegenteil, es war abzusehen gewesen, dass sie sich quer stellen würde …

„Oh ja“, flüsterte ich nach einer Weile, „mit Egoismus kennst du dich ja blendend aus. Vor allem, weil er dir die ganze äußerliche Schönheit verdirbt!“

Rosalie zog scharf die Luft ein. „Sag du mir nur etwas über Schönheit.“

„Nein, lieber nicht. Dir hat es ja noch nie gefallen, dass ich die Worte ‚schön’ und ‚Rosalie’ nicht miteinander vereinen konnte.“

„Und du denkst, das stört mich?“ Sie zog gespielt ungläubig ihre Augenbrauen hoch. Natürlich stört es mich, murmelte sie in Gedanken.

Ich musste grinsen. „Oh Rosalie, selbst ohne deine intriganten, leicht zu durchschauenden Gedankengänge hätte ich gewusst, dass es dir mehr als nur gegen den Strich geht. Eigentlich würde ich mich jetzt dafür entschuldigen, dass es so ist, aber wenn ich mich recht entsinne, hast du noch nie etwas bereut, warum also sollte ich mich dessen erkenntlich zeigen? Und ganz nebenbei: Es tut mir nicht im Geringsten leid, dass du für mich ein normales Wesen bist. Ich habe etwas um das Tausendfache besseres gefunden.“

Du arroganter …, zischte ihre mentale Stimme. „Fein. Dann werde doch glücklich mit diesem Mädchen. Doch komme mir ja nicht an und bettle um Vergebung, wenn sie nicht mehr lebt. Denn sie ist ein Mensch und auf jeden von ihnen wartet der Tod.“

Mich durchzuckte ein Schmerz, wie ich ihn noch nie gespürt hatte. Rasend schnell brodelte etwas Heißes durch meine Glieder, entfachte ein Feuer in mir und schien mich langsam zu verbrennen. Es hielt nur für den Bruchteil einer Sekunde lang an, doch noch lange nachdem die Flammen an meinem toten Herzen geleckt hatten, fühlte ich ihre Hitze. Und zu meinem Verdruss musste ich feststellen, dass Rose Recht hatte.

Bella würde nicht ewig leben, so wie ich. Sie würde das gar nicht wollen, schon gar nicht meinetwegen. Es konnte einfach nicht so sein. Sie würde altern, genauso wie die Menschen in ihrer Umgebung auch, und ich müsste ihr dabei zusehen. Ich musste machtlos daneben stehen, wenn sie ihren letzten Atemzug tat, wenn ihr Herz das letzte Mal schlug und wenn sie das letzte Mal meinen Namen sagen konnte. Und gewiss würde ich in ihren letzten Stunden bei ihr sein, nie würde ich ihr dann von der Seite weichen. Meine kalte Hand würde ihre umschließen, die in diesen Augenblicken immer mehr an Wärme verlor. Ihre Haut würde verblassen, ihr Blick an Ausdruckskraft und Hingabe verlieren und ihr Blut würde langsamer fließen. Und wenn ihre beiden schokoladenbraunen Augen für immer geschlossen waren, so schwor ich mir in diesem Moment, ich würde meine ebenfalls nie wieder öffnen. Folgen würde ich ihr, überall hin, sogar in den Tod …

Mein Atem wurde schneller, meine Hände begannen zu zittern. Ich hatte es gewusst, bereits als ich ihr das erste Mal in die Augen gesehen hatte, war alles glasklar gewesen, nur ich hatte es nicht sehen können, war blind gewesen. Und die Aussage, dass ich Bella liebte, genügte mir nicht mehr. Es gab keine Worte für dieses Gefühl, diese Hingabe, die ich für sie empfand. Konnte sie mein totes, kaltes Herz wieder zum schlagen bringen? Es fühlte sich beinahe so an …

„Na, Bruderherz, hat dich das getroffen?“

Ihre hochnäsig erhobene Stimme holte mich aus meinen Erkenntnissen.

Er hat also doch Schwachstellen, schallte es in ihrem Kopf. Oder besser gesagt, eine. Es ist Isabella Swan. Warum ich da nicht früher drauf gekommen bin …

Ich schnaubte. „Ja, warum nur hast du das erst jetzt bemerkt? Nun, ich hätte da einen Rat für dich, um es das nächste Mal vorzubeugen: Denke weniger an dich selbst, an deine ach so tolle Schönheit und deine Bedürfnisse, dann dürftest du auch besser mitkriegen, was um dich herum passiert.“

„Also, das ist doch …“, murmelte sie, funkelte mich böse an und schürzte ihre Lippen. Das muss ich mir nicht länger anhören, meckerte sie innerlich. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging davon.

„Und so eine Frau nennt sich meine Schwester …“

Kopfschüttelnd ging ich durch die große Halle, nicht ein einziger Schritt war zu hören. Wo die anderen wohl steckten? Naja, egal. Ich musste wieder zu Bella, bevor sie mich vermissen würde. Rosalie hatte mir diesbezüglich einen kleinen Strich durch meinen Zeitplan gemacht, doch es mangelte mir nicht an Geschwindigkeit.

Also, was wollte ich noch mal? Achja … neue Sachen und den Rucksack … ob Bella sich morgen früh von mir zur Schule fahren ließe?

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWo Geschichten leben. Entdecke jetzt