Kapitel 4

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Das Gefühl, welches Mäat empfand, wenn er auf Rutans Rücken durch die Wipfel glitt, war unglaublich. In seinem Bauch kribbelte es als würden hunderte Nissen darin herumfliegen und auf seine Lippen schlich sich wie von selbst ein breites Grinsen. Seine Muskeln waren angespannt und der ganze Körper konzentrierte sich auf die kraftvollen Bewegungen des Hörnchens.

Jedes Mal, wenn sie sich von einem Stamm abstießen, konnte Mäat den Waldboden in der Tiefe überblicken. Der Gegenwind riss an seinen braunen Haaren und trieb ihm Tränen in die Augen. Rutans schwarzes Fell peitschte ihm dabei ins Gesicht, wenn er sich an den Hörnchenkörper drückte, um so wenig Luftwiderstand wie möglich zu bieten.

Jeder Aufprall, wenn Rutan auf einem dicken Eichenast oder anderen Baumstämmen landete, hatte so viel Energie, dass seine Beine schmerzten, aber das machte Mäat fast genauso glücklich wie die pochenden Arme, die bereits müde wurden, weil er sich bei jedem kraftvollen Absprung am Fell festhalten musste.

Schon als junger Adee hatte Mäat immer davon geträumt, wie es sein würde, auf einem Hörnchen durch die Eichenwipfel zu gleiten. Doch sein erster Ritt auf Rutan hatte augenblicklich alle Träume und Vorstellungen in den Schatten gestellt.

Es war ein wundervolles Gefühl, welches sich mit jedem Ausflug steigerte, da auch Rutan immer stärker wurde und sich an das zusätzliche Gewicht auf seinem Rücken gewöhnte.

Jeden Sonnenlauf meinte Mäat wieder, sie hätten die Höchstgeschwindigkeit beim Emporklettern der Stämme erreicht, doch er täuschte sich. Rutan belehrte ihn eines Besseren und flitze rasanter den je in Richtung Himmel hinauf.

Ohne, dass Mäat Rutan ein Signal geben musste, hatte das Hörnchen den Weg zu ihrem liebsten Aussichtsplatz eingeschlagen. Mit voller Geschwindigkeit durchbrach er die Kronen der Eichen die ineinander festgewachsen waren. Mäat bekam einige Äste ins Gesicht geschleudert und musste seine Augen schnell schließen. Dann bremste Rutan abrupt ab.

Der Ausblick, der sich ihnen bot, war atemberaubend. Sie befanden sich auf einer der höchsten Eichen im südwestlichen Tamieheid und von ihrem Wipfel aus spannte sich Grün, so weit er blicken konnte. Dunkelgrün, bläulich schimmerndes Grün, Grün mit roten Punkten bis hin zu hellem, strahlendem und frischem. Je nachdem welche Baumart aus der Erde unter ihnen sprießte, veränderte sich das Bild des Blätterdaches. Der Himmel strahlte in einem warmen Blau mit einzelnen weißen Schlieren, die sich nicht zu Wolken zusammenformen wollten, und Mäat wehte der kühle, angenehme Wind ins Gesicht. Der Geruch von feuchter Rinde und erdigen Bäumen war hier oben verflogen. Über den Blättern roch es klarer, frischer und, so bildete es sich Mäat zumindest ein, auch ein wenig nach Sonne.

Von hier aus konnte er bis zum Ende des Waldes auf der Südostseite von Tamieheid blicken. Dort führten Wiesen weiter, die als schmale, grüne Streifen zu erkennen waren und bald darauf von einer trockenen, gelben Steppe abgelöst wurden. In der gegenüberliegenden Himmelsrichtung waren in der Ferne hohe, graue Gebilde, welche bis in die Wolken ragten, zu erkennen. Einige Spitzen waren weiß. Mäat wusste nicht, was genau diese Gebilde waren. Für ihn sahen sie aus wie Steine. Die Adeen nannte sie Himmelsspitzen, schenkten ihnen aber kaum Beachtung, denn sie lagen weit außerhalb ihrer Reichweite.

Während Mäat seinen Blick über den Wald schweifen ließ, starrte Rutan gebannt auf den Himmel. Für das Hörnchen war es keinesfalls natürlich, so hoch auf die Baumkronen zu klettern und ungeschützt herumzusitzen. Wachsam blickte es sich um und beobachtete alle Bewegungen. Die Ohren zuckten wachsam in alle Richtungen.

Mäats Haare umspielten sein Gesicht und er genoss die warme Sonne auf seiner Haut. Es gab keinen Zweifel, er liebte den Wald über alles, doch auch das was über ihm lag, unerreichbar, übte eine unglaubliche Faszination auf ihn aus. Nur näher als jetzt, das wusste Mäat, würde er dem Himmel nie kommen. Mit geschlossenen Augen und den Blick nach oben gerichtet, ließ er die Sonnenstrahlen auf seine Lieder fallen. Er konnte die letzten Sonnenläufe und die Strafe, die auf ihn wartete, einfach vergessen. Seine Erinnerungen flogen zurück zum Tag, als Mäat Rutan zugeteilt wurde.

Sobald die ersten Federn an den Ohren der Hörnchen zu sprießen begannen, wurden sie von den Meistern beobachtet. Die Alten lernten ihre Charakterzüge kennen und versuchten sie dann einem jungen Adeen zuzuordnen. Und meistens trafen sie mit ihrer Wahl genau ins Schwarze. Jedes Paar verstand sich gut und ergänzte sich, wobei enge Freundschaften entstanden. Natürlich war auch das ein oder andere Mal ein Adee dabei, der mit seinem Hörnchen nicht klar kam oder auch anders herum. Doch das waren Einzelfälle, die der Rat meistens durch Kniffe lösen konnte. Mäat war mit der Zuordnung der Adeenmeister mehr als zufrieden. Schon viele Sonnenläufe vorher hatte er mit Xav die jungen Hörnchen beobachtet und Rutan war ihm dabei immer wieder ins Auge gefallen. Als er ihm dann tatsächlich zugeteilt wurde, konnte er sein Glück kaum fassen und verstand sich auf Anhieb blendend mit dem schwarzen Hörnchen. Er vertraute ihm und es entstand eine tiefe Bindung, von der ihm seine Eltern schon oft erzählt hatten. Doch er hätte nie und nimmer erwartet, dass Rutan ihm so sehr ans Herz wachsen und den größten Teil davon einnehmen würde.

Rutan stieß einen leisen Pfiff aus und Mäat erschrak, denn er kannte den Warnton seines schwarzen Begleiters. Er folgte dessen Blick und konnte augenblicklich einen kleinen Punkt fast direkt über ihnen ausmachen, welcher zu kreisen schien. Auf hellblauen Hintergrund konnte man ihn kaum erkennen, doch sobald er einen Wolkenfetzen passierte, erkannte Mäat die Bewegung.

Der blauweiß gefiederte Bauch war unverkennbar. Ein Asgass.

Sofort klammerte er sich in das schwarze Fell auf Rutans Rücken. Dessen Muskeln waren angespannt und er war bereit, sofort loszuspringen. Noch einmal hob Mäat den Kopf und richtete seinen Blick auf den Himmel. Jetzt konnte man ihn deutlich erkennen. Ihr Feind hatte zum Sturzflug angesetzt, dadurch seine Tarnung aufgegeben und raste mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit, den spitzen Schnabel voran, welcher zu allem Überfluss auch noch mit zwei kleineren Hauern an den Seiten ausgestattet war, auf sie zu. Die rotorangen Augen, die sich böse von den schwarzen, abstehenden Schuppen abhoben, welchen den Hals des Asgass wie einen Panzer schützten, nahm Mäat kaum noch war.

Rutan war mit einem riesigen Satz auf den Ast unterhalb übergesprungen und hatte sich nun zum Stamm in der Mitte des Baumes vorgearbeitet, um so schnell wie möglich nach unten zu kommen.

Kurz darauf hörte Mäat auch schon, wie der schwere Körper des Feindes das Blätterdach der kräftigen Eiche durchbrach.

Eichenfeuer - Wesen des WaldesDove le storie prendono vita. Scoprilo ora