Kapitel 1

308 48 105
                                    

Der Wald war zu leise. Der Wind bewegte die Zweige nur schwach, sodass von den Wipfeln der Eichen kaum ein Geräusch ausging. Die saftig grünen Blätter hingen still an ihren Posten und verweilten dort im hellen Licht des Sonnenlaufes.

Es waren keine optimalen Bedingungen für Mäats und Xavs Vorhaben. Es wäre einfacher gewesen, wenn das Rauschen einer sachten Brise ihren Atem und ihre Bewegungen übertönt hätte. Aber der Wald meinte es nicht gut mit ihnen und man konnte es ihm nicht verdenken.

Xav legte seinen Finger an die Lippen und deutete dann nach unten.

Mäat schielte aus seinem Versteck, gerade einmal eine Armlänge von Xavs entfernt, nach oben. Der niedrige Ast, umschlungen von dichtem Blätterwerk, schützte sie optimal vor unerwünschten Blicken und war nahe am Fuß des Baumes.

Er versuchte sich etwas zu strecken, um eine bessere Sicht zu haben, doch er musste sich auf Zehenspitzen stellen, um über das Laub hinwegzusehen. Mäats Größe war gerade einmal vergleichbar mit der eines Fichtenzapfens. Zwar war er noch jung und würde noch ein wenig wachsen, doch sein bester Freund, Xav, überragte ihn schon um eine halbe Kopflänge. Seine hohe Stirn runzelte sich angestrengt und die, für Adeen typischen, sechs Finger an jeder Hand krallten sich in das Holz, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Weit hinter ihnen waren die Hörnchen versteckt. Mäat konnte sie weder hören noch sehen. Doch so war es auch geplant. Die Reittiere sollten erst zu ihnen stoßen, wenn es Zeit war.

Jetzt hatte auch Mäat ihn entdeckt.

Der alte Meister kratzte mit seinem Messer ein Stück Rinde von der Eiche ab. Dabei saß er mit gespreizten Beinen auf deren Ast. Sein langes Gewand hing zu beiden Seiten hinab und ließ nur die nackten Zehen hervorblitzen. Bedächtig führte er das Werkzeug an der Baumkruste entlang, die sich um den Stamm schlängelte, wie die Falten im Gesicht einer alten Adee. Dann klopfte er die Holzstückchen in einen kleinen Beutel, den er sich um die Hüfte gebunden hatte. Neugierig zog er dabei die Brauen zusammen, als er an der verletzten Rinde schnupperte. Er verhielt sich, wie die beiden Jungs es vorhergesehen hatten.

Ihren Beobachtungen nach, müsste er sich nun auf den Weg in Richtung Waldboden machen. Dort würde er nach einigen Blüten suchen, bestimmte Farne abschneiden und dabei ungeschützt sein. Mit den Füßen voran kletterte er mühselig am Stamm entlang nach unten.

Mäat betrachtete ihn aus seinem Versteck und hatte fast ein wenig Mitleid. Er selbst hatte Rutan, sein Hörnchen und konnte auf dessen Rücken innerhalb von Sekunden von einem Wipfel zum nächsten springen. Er hätte die Entfernung in einem Wimpernschlag überwunden gehabt. Der Alte hingegen brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis er an seinem Ziel, nur knapp unter ihnen, angekommen war. Dort ging er wieder seiner Lieblingsbeschäftigung nach, dem Kräutersammeln. Er zupfte vereinzelt Blüten und Gräser ab, um diese in seinen Beutel gleiten zu lassen.

„Jetzt!", murrte Xav leise und grinste dabei listig.

Mäats Finger schlossen sich fester um ein Netz, das sie beide mit den Händen gepackt hatten, und er nickte ihm zu: „Wie geplant."

Die beiden stießen sich ab und brachen damit aus ihrem Versteck heraus. Die Landung am Boden war hart und die Wucht trieb die Luft aus Mäats Lunge, doch sie hatten ihr Ziel getroffen. Zwischen ihm und Xav spannte sich das Netz über den alten Meister, der vom Aufprall zu Boden geworfen worden war. Zappelnd und strampelnd schlug er in den Seilen um sich, doch bevor er sich wieder aufrichten konnte, hatte Xav seinem Freund das Ende der Schlinge gereicht. Mit einem geschickten Handgriff band Mäat die beiden Seile zusammen und verschloss somit jeden Fluchtweg.

Xav stieß währenddessen den vereinbarten Signalpfiff aus.

Das Rauschen der Blätter über ihnen kündigte nur einen Augenblick später die beiden Hörnchen an, die sich geschickt durch die Äste der Eichen bewegten. Das Fell der Tiere schimmerte im Licht, als sie kopfüber am Stamm entlang, auf die Adeen zusprangen.

Eichenfeuer - Wesen des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt