8. Kapitel - Trauer

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„Ey du!", ruft mir einer zu und als ich mich umdrehe, sehe ich einen Mann um die 27, tätowiert mit einem Gangzeichen am Kopf. Ich bleibe stehen als er auf mich zu kommt.

„Warstn' Kumpel von Lion, hab' ich Recht?" Ich bejahe. „Hat' er erzählt. Hast ihn den Arsch gerettet als er fliegen sollte nich'? Hast Vorträge und so gehalten und mit der Zeitung gesprochen."

„Nicht ich alleine, meine Freunde haben uns dabei geholfen.", erkläre, doch er winkt ab.

„Ne ne, Lion meinte, dass du das alles geplant hattest. Hat dich sehr geschätzt. Hatte Respekt vor dir." Dann tut er etwas, was ich nicht erwartet hätte weil es sehr untypisch ist: er drückt mich an sich. „Hab auch Respekt vor dir. Tut mir Leid, weiß, dass ihr gute Freunde wart. Ich schätze die Straße holt sich früher oder später jeden." Er spuckt zur Seite und ich erinnere mich an dasselbe Gespräch, was ich mit Lion geführt habe. Ja, vermutlich hatte er Recht. Ob er auch schon jemanden daran verloren hat? Hatte er mit ähnlichen Bildern wie ich zu kämpfen?

Nachdenklich mache ich mich auf in den 7. Stock, wo er mit seiner Mum und seiner Schwester lebte. Selbst in dem Haus ist es so still. So als wäre das ganze Viertel ausgestorben. Es ist unbehaglich und ich merke wie diese unnatürliche Stille mich umarmt und versucht mit sich zu ziehen. Ich schüttel mich um es abzuwerfen wie ein lästiges Tuch, dann klopfe ich und Lion's kleine Schwester öffnet mir die Tür.

Sie braucht einen Moment und ich denke, dass sie die Tür wieder schließt. Dann aber springt sie mir in die Arme und klammert sich an mich. Ich halte sie, drehe sie leicht hin und her, während ich leise summe. Ich halte sie. Solange, bis mir meine Arme einschlafen und ich merke wie die Wunde angefangen hat zu bluten. Und ich halte sie weiter, denn das mindeste was ich Lion schulde ist, dass ich mich um die kümmere, die das wichtigste in seinem Leben war.

Denn dass er von der Straße weg und einen vernünftigen Job haben wollte, wollte er für seine Schwester. Er wollte sie mitnehmen, wenn er studieren gegangen wäre. Sie und ihre Mum. Weg von diesem Ort wo es so viel Schlechtes gab. Er wollte ihr eine Zukunft schenken und Möglichkeiten, die er nicht in ihrem Alter hatte.

Lilian löst sich von mir und ich setzte sie auf dem Boden ab. Sie nimmt meine Hand und zieht mich in diese winzige Wohnung. Ihre Mutter ist nicht zu sehen und ich frage mich, wie sie ihre Tochter in diese Zeit alleine lassen kann.

„Wo ist deine Mum?"

„Bei Bekannten.", antwortet sie schulterzuckend und klopft neben sich auf den Stuhl. Bei Bekannten hieß in einem billigen Schuppen wo sie sich wieder Schnaps einflößt, bis sie ihren eigenen Namen vergisst. Bis sie ihren Sohn vergisst. Lion hatte oft davon erzählt, dass er Nachts sie abholen musste und dann am ihren bett saß um aufzupassen, dass sie nicht stirbt. Ich habe Angst, dass Lilian daran zerbrechen wird, weil sie zu jung ist um solche Bürde zu tragen. Sie hatte immer ihren Bruder der sich um sie kümmerte und dafür sorgte, dass sie essen und Kleidung hatte. Jetzt hatte sie niemanden mehr.

„Darf ich es sehen?", fragt sie schüchtern und deutet auf meine Brust.

Statt einer Antwort knöpfte ich mir das Hemd auf und mache das Pflaster lose. Blut klebt in den Kompressen, doch das stört sie nicht. Neugierig betrachtet sie die Wunde von allen Seiten. Ich frage mich was in ihrem Kopf vor geht. In wie weit hatte sie verstandne was da passiert war?

„Dein Bruder hat mir das Leben gerettet.", sagte ich, während ich das Pflaster wieder befestige und das Hemd schließe.

„Mein Bruder war immer schon ein Held.", murmelt sie, als sie auf meinen Schoß klettert und sich an mich kuschelt.

„Das stimmt." Und dann stelle ich die Frage, die sie vermutlich niemand fragt, weil es niemanden mehr gibt, den es interessiert. „Wie geht es dir Prinzessin?"

Sie sagt lange nichts, dann sehe ich erste, kleine Tränen kullern. „Ich vermisse ihn." Ich ziehe sie näher an mich, küsste ihren Scheitel, halte sie weil ich weiß, dass sie sonst niemand mehr hat, der es machen wird.

*

„Danke das du gekommen bist.", begrüßt mich Alexander Kennedy und sein Handgriff ist fest.

Er wirkt gefasst und das erleichtert mich sehr, denn nach Lilian brauche ich Zeit um meine Isolation wieder aufzubauen, sonst verkrafte ich diesen Tag nicht. Ich merke so schon wie ich meine Grenze erreiche und ich Balanciere zwischen dem stark bleiben und meinen totalen Zusammenbruch.

Ich betrete das große Haus und Susan's Mutter kommt uns entgegen. Auch sie wirkt so ruhig und ich glaube, dass sie für den Moment keine Tränen mehr haben. Verstehe ich, geht mir auch so. Sie kommt zu mir und drückt mich kurz an sich. Es fühlt sich kühl an, aber das hatte ich erwartet.

„Hatte Susan dir von ihrem neuen Projekt erzählt?", erkundigt sie sich und ich nicke. „Wir werden es weiterführen, unter ihrem Namen." Das zu hören befreit mich irgendwie. Es war ein Plan von ihr gewesen und ich wusste wie sie es hasste, wenn sie Dinge nicht umsetzen konnte.

Vielleicht sind sie deswegen auch so ruhig. Vielleicht liegt es daran, dass sie etwas zu tun haben, dass sie eine Aufgabe haben, ein Andenken was es zu wahren gilt. Und ich bin froh, denn ich denke es hätte ihr gefallen, wenn sie gewusst hätte, dass ihre Idee weiterlebt, auch wenn sie es nicht mehr tut. Dass sie selbst nach ihrem Leben etwas Gutes bewirkt. Dass sie nicht vergessen wird.

The AnarchistsWhere stories live. Discover now