„Sie stellt den König vor Gericht", erklärte die Assistentin der Hohen ohne Umschweife, „In exakt", sie sah auf die Uhr, „fünfzig Minuten."

Jade riss die Augen auf und rutschte halb von der Couch, wobei einige ihrer Textmarker zu Boden fielen und sie ihrem Kaffee verschüttete. Ascob zog sie zurück auf die Couch. Auch sein Mund war vor Überraschung aufgeklappt. Jade rieb an dem Kaffeefleck auf ihrer Hose herum und fluchte leise genug, dass die Nocturna Schwestern es nicht hörten.

„Wirklich?", fragte Jade ungläubig nach, „Sie stellt den König vor Gericht?"

May fuhr sich über die müden Augen und massierte kurz ihre pochenden Schläfen, während sie nickte. Ihr Kreislauf war in keinem guten Zustand heute.

„Sternschuld", fluchte Jade nun doch laut und wurde scharf von Cheleste zurechtgewiesen, die gerade die Gurte ihres weißen Brustpanzers löste.

May nahm Alcha dankbar eine dampfende Tasse Kaffee ab.

„Die Gelben wecken in diesem Moment den Orden", ergänzte sie. Das hieß, dass es in ein paar Minuten nicht mehr so leer sein würde, wie gerade. Viele würden sich die Übertragung auf dem großen Screen im Gemeinschaftsraum ansehen.

Die Knochenschwester hatte einen dunkelblauen Fleck auf der linken Iris, an dem Mays Blick hängen blieb, während die jüngste der Drillinge sich neben ihr auf die Couch fallen ließ.

Coria hatte mehrere von diesen blauen Punkten auf der Regenbogenhaut und Chelestes rechtes Auge war hellblau, während das Linke in dem perfekten diamantweiß des Ordens strahlte.

Solche Kinder waren gefährlich für das System der Stadt, zu mächtig. Die Gerüchte umschwirrten die Drillinge schon seit ihrer Geburt, aber niemand wagte es ernsthaft die Familienwürde der Nocturna anzuzweifeln.

Denn die Nachtfamilie hatte einen Sitz in dem Gericht, vor das der König heute gestellt werden sollte und gehörte zu den einflussreichsten der Ordensfamilien.

May zuckte zusammen, als es klopfte.

"Sternfall! Herein!", brüllte Jade genervt. Diesmal kam Cheleste herüber, um ihr eigenhändig eine Kopfnuss zu verpassen. Der Orden mochte es nicht, wenn man fluchte. Eine gelbe Dienerin schwebte durch die Tür, verhüllt bis auf die honigfarbenen Augen und drückte May etwas weiß verpacktes und einen Zettel in die Hand.

May verzog durch den Dampf, der von ihrem Kaffee aufstieg, den Mund.

"Wenn sie wegen des dramatischen Effekts eine Gelbe schickt, ist es ernst", kommentierte Ascob tonlos.

"Das musst du mir nicht sagen", erwiderte May, die noch ein wenig blasser geworden war.

Sie überflog die Notiz und schnaubte ein Lachen, was alle anderen im Raum aufmerken ließ. Eine Glasdisc fiel in Mays Hand, als sie das Papier aufriss.

"Sieht aus, als müsstest ihr alleine zu der Verhandlung."

Ein schrecklich unharmonischer Akkord von Coria war ihr ganzer Kommentar. May sackte auf der Couch zusammen, ein dickes Knäuel aus bitterer Enttäuschung und Widerwillen im Bauch.

"Sie lässt dich nicht gehen? Das ist wahrscheinlich der wichtigste Prozess des Jahrhunderts."

May zuckte die Schultern.

"Ich soll das hier entschlüsseln. Sehr wichtig."

Unmotiviert hielt sie die Disc hoch und durchbohrte das kleine Ding mit tödlichen Blicken.

Jade spuckte fast ihren Kaffee aus.

"Und außerdem will sie dich bis an dein Lebensende dafür bestrafen, dass du nicht vor laufender Kamera, der Frostgarde und den Alessandrinis den Henker niedergeschlagen und laut verkündet hast, dass diese Hinrichtung illegal ist", lästerte sie und erntete warnende Blicke der Knochenschwestern.

Chelestes Wut äußerte sich nur in der schmalen Linie, zu der ihre ansonsten vollen Lippen zusammengepresst waren.

May und die Knochenschwestern hatten noch zu gut das Bild des Königs im Kopf, der ihnen über den noch warmen Körper des Assassinen mit einem leeren Becher zuprostete.

"Er hat das alles geplant", stellte Cheleste düster fest, was alle zum Verstummen brachte, denn die Älteste Knochenschwester sprach nie besonders viel. Wenn sie es tat, tat man gut daran, ihr zuzuhören. Sie lehnte immer noch an der Bar, unbewegt, wie ein Eisberg in der Brandung.

Ihre ungleichen Augen suchten Mays Blick.

"Er hat nur darauf gewartet, dass Rya wieder an die Mauer muss. Es ist nicht nur deine Schuld, May."

May lächelte zaghaft, während die Worte der ältesten Nocturna Schwester in ihr nachhallten. Cheleste sagte nie etwas, um nett zu sein. Ihre Meinung hatte May schon immer viel bedeutet. In den Augen der Nocturna Schwestern Anerkennung zu finden, war schwer gewesen, doch nun verstanden sie sich relativ gut. May hoffte nur, dass diese Beziehung nie kippen würde. Man sollte sich die Drillinge nicht zum Feind machen.

Cheleste trank ihr Wasserglas aus und stellte es zurück auf die Bar, bevor sie die Riemen an ihrer weißen HighTec Rüstung wieder festzog. Auch Jade und Ascob standen auf, um sich bereit zu machen. Sie alle ließen May im sanften Licht alleine. Diese presste sich die Fäuste auf die schmerzenden Augen.

Sie hatte versagt.

Egal, was Cheleste dachte, sie hatte versagt.

Alles, was ab jetzt passierte, hätte sie verhindern können, wenn sie diese Hinrichtung nicht verschlafen hätte.

May lehnte die Stirn gegen die warme Kaffeetasse, zu hibbelig zum Schlafen und zu müde, um sich jetzt mit dieser Glasdisc zu beschäftigen, während der Rest der Studenten langsam eintrudelte, um sich die Übertragung anzusehen. Sie floh in ihr Zimmer, als ihr all die Fragen, all die verurteilenden Blicke, zu viel wurden und rollte sich zusammen. Während der Königsprozess begann, starrte ins Nichts und erstickte fast an der Tatsache, dass ihr so ein schrecklicher Fehler unterlaufen war.



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