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Mir hätte klar sein müssen, dass die direkte Konfrontation mit den Tatsachen eskalieren würde. Aber daran hatte ich in diesem Moment nicht gedacht und jetzt standen wir zu fünft im Wohnzimmer und schrien uns gegenseitig an. Robert Bender schrie wütend seine Frau an, gleichzeitig redeten die Zwillinge Lars und Sven fassungslos auf ihre Mutter ein und ich stand da und beobachtete das Spektakel, während mein Herz mir bis zum Hals schlug. Als es mir zu viel würde, rief ich laut: "Stop! Wir setzen uns jetzt alle hin und reden in Ruhe und der Reihe nach miteinander!" Alle nickten und wir setzten uns hin. Dann fing Lars an zu sprechen, wobei er immer noch völlig schockiert wirkte. "Wieso hast du uns nie gesagt, dass wir eine Halbschwester haben?" Karin Bender seufzte tief und fuhr sich durchs Gesicht. "Es war eine einmalige Sache, wir waren beide verheiratet. Als ich erfuhr, dass ich schwanger bin, brach für mich eine Welt zusammen. Ihr wart schon 7 Jahre alt und ich hatte alle Hände voll mit euch zu tun. Also habe ich es Georg, Emilys Vater, erzählt und wir haben gemeinsam beschlossen, dass er das Kind zu sich und seiner Frau nehmen würde. Als ich im siebten Monat war, habe ich euch allen erzählt, dass ich eine Kur mache und bin zweieinhalb Monate später wiedergekommen, das Baby war schon in Frankfurt und die Adoption lief glatt. Niemand hatte etwas mitbekommen und es wäre wohl auch für immer so geblieben." Lieblos lachte ich und nickte. "Ja, wäre meine Mutter nicht zur Besinnung gekommen, wäre ihre verlogene Welt jetzt immer noch perfekt." "Nein, meine Welt war nicht perfekt. Natürlich habe ich mir oft überlegt, wie es geworden wäre, wenn du bei uns geblieben wärst, wenn ihr drei als Geschwister zusammen groß geworden wärt. Aber damals hielt ich es für die richtige Entscheidung. Ich wollte meine Ehe nicht kaputt machen!" Jetzt schaute sie ihren Mann an. "Es tut mir so Leid, Robert. Das musst du mir bitte glauben." Herr Bender rieb sich die Schläfen, wahrscheinlich war seine Kraft von Schreien aufgebraucht. "Ich brauche erstmal Zeit, um das zu verdauen. Du hast mich und die Jungs zwanzig Jahre lang belogen." Er stand auf und verließ den Raum, Totenstille breitete sich aus. Schließlich erhob ich mich. "Es ist vermutlich besser, wenn ich gehe. Es tut mir Leid, dass jetzt alles über Ihnen zusammenbricht, aber mir ging es genauso, als ich letzte Woche den Brief meiner Mutter gelesen habe. Ich wünsche Ihnen viel Glück." Frau Bender nickte einfach nur, Sven und Lars standen ebenfalls auf und grinsten mich verlegen an. "Wollen wir vielleicht noch was zusammen machen? Immerhin sind wir jetzt fast eine Familie." Ich zuckte die Schultern und nickte dann. "Schlagt was vor." Die beiden schauten sich an und begannen im gleichen Moment breit zu grinsen. "Wir gehen Fußball spielen." Zufrieden nickte ich. "Alles klar. Wo ist denn hier der nächste Fußballplatz?" "Gleich um die Ecke gibt es einen. Komm'!" Zu dritt verließen wir das Haus und liefen etwa fünf Minuten, dann erreichten wir unser Ziel. Lars zauberte irgendwo einen Ball her und kickte ihn zu Sven, dieser kickte zu mir und ich wieder zu Lars. Nachdem wir uns also leicht eingespielt hatten, beschlossen wir Elfmeter zu schießen. "Ich geh' ins Tor!", rief ich sofort und rannte in den Kasten. Die beiden wussten nicht, dass ich jahrelang im Verein als Torhüterin gespielt hatte. Das war zwar schon ein bisschen her, aber das meiste konnte ich noch. Sven trat zuerst an, aber er schoss total lasch und ich parierte den Ball mit Leichtigkeit. "Ist das etwa alles, was du drauf hast?", rief ich lachend und die Zwillinge schauten sich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann schoss Lars und der Schuss war wirklich hart. Trotzdem schaffte ich es, ihn wegzufausten. Siegessicher streckte ich meine Faust in die Luft und jubelte. Dadurch verpasste ich jedoch, dass Lars nochmal schoss, und als der Ball ins Netz prallte, jubelten die Jungs. Sp ging es eine halbe Stunde lang weiter, dann war ich völlig außer Atem und ziemlich verdreckt. Lachend rannte ich zu Sven und sprang von hinten auf seinen Rücken. Er hatte damit überhaupt nicht gerechnet und mich ja auch gar nicht gesehen, sodass er fast hinfiel. Als er sich aus dem Taumeln gefangen hatte, begann er jedoch ebenfalls zu lachen und verfolgte mit mir auf den Schultern Lars, der vor uns her dribbelte. Als wir ihn schließlich erreeicht hatten, ließ ich mich von Sven fallen, schnappte mir den Ball und schoss ihn ins Tor. Zum Glück waren wir nicht weit davon entfernt, sonst hätte ich wohl nicht getroffen. Wieder jubelte ich und kreischte kurz auf, als mich meine Halbbrüder zu zweit hochhoben und auf ihre Schultern setzten. So drehten wir eine ganze Runde über den Platz, dann ließen wir uns alle lachend ins Gras fallen. Dort blieben wir Kopf an Kopf liegen und betrachteten die vorüberziehenden Wolken. "Ihr seid 28, richtig?" "Ja", ertönte die synchrone Antwort. "Und was arbeitet ihr?" "Wir sind Profifußballer." Überrascht schaute ich kurz nach rechts und links. "Echt? Ist ja krass. Und für welchen Verein?" "Bayer Leverkusen." "Beide?" "Ja, seit diesem Sommer wieder. Sven hat die letzten acht Jahre bei Borussia Dortmund gespielt." "Wohnt ihr dann jetzt auch wieder zusammen?" "Ja. Lars' Wohnung ist groß genug für uns beide und da würden locker auch noch zwei Leute mehr reinpassen." Ich nickte langsam und legte den Kopf ein wenig schief. "Erzählt mir noch mehr über euch." Und dann begannen sie zu erzählen. Alles von ihrer Kindheit an bis heute, und ich hörte aufmerksam zu und hatte das Gefühl, die beiden schon ewig zu kennen. Danach war ich dran. "Über mich gibt es eigentlich nicht viel zu wissen. Ich heiße Emily Josefine Keil, bin 20 Jahre alt und komme aus Frankfurt. Vor drei Jahren ist mein Vater gestorben und vor einer Woche meine Mutter. Ich habe eine Weile im Verein Fußball gespielt, meistens als Torhüterin, ansonsten auch mal zur Not in der Abwehr. Vor zwei Jahren habe ich außerdem Abitur gemacht und war anschließend ein Jahr lang als Au-Pair in Chicago. Als ich wieder in Deutschland war, habe ich angefangen zu studieren. Und das war es dann eigentlich auch schon." "Ach komm', da geht noch mehr. Was waren deine Lieblingsfächer? Hast du einen Freund? Wieso hast du mit dem Fußballspielen aufgehört?" Lachend unterbrach ich Lars. "Okay okay, hab's verstanden. Lieblingsfächer Geschichte und Chemie, mein Freund und ich haben uns letzte Woche getrennt und mit dem Fußballspielen habe ich aufgehört, weil ich das zeitlich nicht mehr unter einen Hut gekriegt habe." "Du klingst gar nicht traurig, wenn du von der Trennung von deinem Freund redest", stellte Sven fest. Ich zuckte bloß die Schultern. "Ich weiß jetzt, dass er ein Arsch war, nur hab ich das während der Beziehung mit meiner rosaroten Brille nicht gesehen." "In Zukunft beschützen wir dich vor Arschlöchern, versprochen." Lachend drehte ich mich auf den Bauch und stützte meinen Kopf auf meine Arme. "Ist das etwa der Große-Bruder-Instinkt?" "Vielleicht. Aber um mal wieder ernst zu werden: Ich find's richtig cool jetzt eine Schwester zu haben." "Geht mir genauso", stimmte Lars seinem Zwilling zu. Glücklich grinste ich die beiden an. "Ich find's auch richtig cool jetzt zwei große Brüder zu haben. Im übrigen könnt ihr froh sein, dass wir die Wahrheit erst jetzt herausgefunden haben. Mit 13,14,15 war ich schrecklich. Ehrlich, das wollt ihr nicht erlebt haben." Ich musste lachen und die Jungs stimmten mit ein. Wir blieben noch etwa eine Stunde so liegen, dann gingen wir zurück zum Haus. Dort öffnete meine leibliche Mutter uns die Haustür und sofort wurden ihre Augen groß. Sie musterte uns drei, wie wir so verdreckt vor ihr standen, dann liefen die ersten Tränen über ihr Gesicht. "So hab ich mir das immer vorgestellt", schluchzte sie und hielt sich die Hände vor's Gesicht. Sven und Lars gingen zu ihr und umarmten sie, ich blieb unschlüssig in der Haustür stehen und wusste nicht, was ich machen sollte. Sven winkte mir leicht und ich atmete tief durch, bevor ich mich der Umarmung anschloss. Mein Gesicht war neben dem meiner leiblichen Mutter und mit erstickter Stimme flüsterte ich ihr ins Ohr: "Es ist okay. Alles ist okay." In diesem Moment begann sich in mir das Gefühl von Familie auszubreiten.

Plötzlich zwei Brüder?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt