Kapitel 2: Versuchung & Reiz

6 0 0
                                    

Denn gerade als ich mich wieder in meinem Bett verkriechen wollte, kam die quietschende Stimme meiner Mutter durch meine Tür: „Alexander! Kommst du bitte zu mir? Wir müssen Schulsachen einkaufen, oder hast du das schon wieder vergessen?"
Na toll. Natürlich hatte ich das vergessen. Fuck. Wer denkt denn freiwillig daran, dass in zwei Tagen die Schule wieder eröffnet wird?

Seufzend zog ich mir meine dunkelgraue Weste über, schlüpfte in eine schwarze Jogginghose, ein Paar zerfetzte Chucks und hetzte die knarrende, alte Holztreppe hinunter. Hastig marschierte ich zu unserem Auto und setzte mich auf den Beifahrersitz.
Und schon rollten wir gemächlich über den grauen Asphalt, der uns geradewegs in die nächstgelegene Stadt führte. Dort steuerte meine Mutter zielsicher ein Schreibwarengeschäft an, ich trottete ihr mürrisch hinterher.

Ich schnaubte nur missmutig, als sie erwähnte, sie würde die nötigen Sachen schon mal besorgen und ich könne inzwischen herumschauen und andere Besorgungen machen. Warum sollte ich dann überhaupt mitkommen? Aber ich wusste, dass Widerstand nichts ändern würde, also schlenderte ich durch den heruntergekommenen Laden und versuchte den überdrehten Kindern mitsamt ihren einkaufswütigen Eltern aus dem Weg zu gehen.
Während ich da so meine Runden drehte, kam ich an einer kleinen Auswahl an Klingen für Spitzer vorbei und hielt automatisch vor den in blauem Karton eingepackten Metallstücken inne.

Vier Monate. Vor vier Monaten hielt ich das letzte Mal so eine Klinge in der Hand. Sie lächelte mich förmlich an, wollte, dass ich sie mit meinen kalten Händen behutsam anfasse und ganz langsam über meine Unterarme gleiten lasse. Und ich? Tja. Ich war schwach, sollte diese Gedanken nicht zulassen und trotzdem fanden sie immer wieder den Weg in mein Unterbewusstsein.
"Alexander? Kommst du, wir müssen weiter." Die schrille Stimme meiner Mutter tönte von der Kasse in meine Richtung und riss mich ruckartig aus meiner Trance. Keine Ahnung wie lang ich vor diesem verfluchten Regal gestanden habe, ich muss ausgesehen haben wie ein Idiot. Aber hey, das ist ja nichts Neues. Ein letzter Blick auf die spitzen Enden und scharfen Kanten der kleinen Schneide hat gereicht, ohne lange zu zögern befand sich die blaue Verpackung samt Inhalt in meiner Hosentasche. Ich konnte nicht anders. Und meine Mutter konnte ich ja kaum bitten, mir meine Laster zu kaufen, oder? Scheiße! Verdammte Scheiße! Zumindest um das Erwischtwerden musste ich mir keine Sorgen machen, der Laden war mindestens so alt wie die Frau, der er gehörte und die hatte ja wohl keine Ahnung von modernen Überwachungstechniken - zu meinem Glück.  Ich versuchte meine Aufregung unter Kontrolle zu bringen, stapfte zu meiner Mutter und trat mit einigen Papiertüten, die sie mir in die Hand gedrückt hatte, die Heimreise an.

Meine Mutter machte nicht den Anschein, dass sie etwas von meinem "Rückfall" gemerkt hätte. Ohne ein Wort schoss ich meine Chucks in die Ecke, latschte in mein Zimmer, ließ die weiße Holztür ins Schloss fallen und sperrte ab. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, atmete ich einige Sekunden lang schnell ein und aus. Fuck! Tausende Stimmen schrien durch meinen Kopf. Ich fuhr mir mit zitternden Händen durch meine dunkelrot gefärbten Haare, die mir mittlerweile etwa bis zu den Schultern reichten. Meine Atmung schien sich wieder zu normalisieren. Ich fasste in meine Hosentasche und zog den kleinen, silbrig schimmernden Dreckskerl heraus. Etwa fünf Sekunden starrte ich auf dem Gegenstand in der blauen Kartonverpackung.

Herzlichen Glückwunsch, Alex. Du hast gerade die letzten vier Monate in den Wind geschossen. Ich musste kurz über meine eigene Dummheit lachen, aber dieses Lachen verwandelte sich schnell in ein leises Schluchzen, das damit endete, dass ich oberkörperfrei auf meinem Bett hockte und die Klinge unsanft aus der Hülle riss.

Gedanken auf dem ScheiterhaufenWhere stories live. Discover now