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Perenelles dunkle Augen funkelten vor Wut, als sie auf den Bildschirm sah. Dann drehte sie sich zu Timothy um. "Wie kann das passiert sein?"
Timothy schüttelte den Kopf. "Wir haben keine Erklärung dafür. Mr Foaly nimmt an, dass der Schläfer ausgefallen ist. Vielleicht war der Gnom radioaktiver Strahlung ausgesetzt?"
Sie hatten das GPS-Signal eines auf freien Fuß gesetzten Wichtels verloren. An sich war der Wichtel ungefährlich, aber dass der Schläfer, an den das GPS-Signal angeschlossen war, deaktiviert worden war, war besorgniserregend.
Perenelle war kurz davor, den Kopf in den Händen zu vergraben, aber sie hielt sich davon an. "Wo haben wir das letzte Signal empfangen?"
"Auf dem Marktplatz von Haven. Dort gibt es sicher viele Möglichkeiten, den Schläfer zu deaktivieren, so viele Kriminelle wie dort sind." Timothy sah unglücklich aus. Die Kriminalität an diesem Ort war ein Problem, über das sich schon Generationen von Commandern den Kopf zerbrachen. Gelegentlich gab es einzelne Erfolge, Schmugglerringe oder ähnliches zu zerschlagen, aber im großen Stil gab es keine Verbesserung. Wenn dieser Kobold seinen Schläfer deaktivieren wollte, dann hätte er es am Marktplatz gemacht. Unglücklicherweise war das GPS darin nur auf etwa 10-15 Meter genau und professionelle Kriminelle hatten sicher Möglichkeiten, das Signal zusätzlich zu verschleiern.
"Also hat der Wichtel es absichtlich deaktiviert", schloss Perenelle. "Aber warum jetzt?"
Foaly verlagerte sein Gewicht auf einen anderen Fuß. "Ähm Chief, das ist jetzt nur eine Vermutung... Aber das Haus von Sylke liegt in der Nähe."
Sylke! Aber wozu würde Sylke einen Wichtel brauchen?
Perenelle seufzte. "Foaly, präparieren Sie eine Ihrer Wanzen mit der DNA von" sie sah auf den Bildschirm "Kobalt Latour. Timothy, Sie holen mir Commander Kelp auf den Bildschirm in meinem Büro."
Foaly verließ hufklappernd den Konferenzraum und Perenelle folgte ihm, ging dann aber in Richtung ihres Büros. Vinyáyas Büros. Des Büros.
Trouble Kelp wartete auf ihrem Bildschirm. Er sah müde aus, dachte Perenelle. Müde und alt. War es möglich, dass jemand in wenigen Wochen so sehr altern konnte? Er sah um Jahrhunderte älter aus als der Elf, der vor ein paar Wochen seinen Hintern in Erdland gelassen hatte, anstatt seiner Pflicht nachzukommen und seinen Commander zu beschützen, und Perenelle hasste ihn immer noch dafür. Angesichts seines müden, erschöpften Gesichts kam sie heute jedoch nicht darum herum, sich einzugestehen, dass er sich sicher auch Vorwürfe machte. Am Anfang hatte sie vermutet, dass er irgendwie davon gewusst haben musste und sie bereitwillig in den Tod geschickt hatte, um ihren Platz einzunehmen. Falls das sein Plan gewesen war, war er jedoch nur teilweise aufgegangen, dachte Perenelle grimmig. Sie verteidigte ihre Position als Chefin von Acht mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen. Mittlerweile hatte sie diese Vermutung fallen gelassen, weil sie ihm diese Art von Kaltblütigkeit nicht zutraute. Die Beziehung zwischen Commander Kelp und ihr war dennoch angespannt.
"Commander", sagte Perenelle knapp.
"Chief. Sie haben um eine Unterhaltung gebeten?"
Perenelle versuchte, nicht gereizt zu sein. "Ja. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, ist der Wichtel Kobalt Latour entkommen."
"Tatsächlich ist mir das bekannt."
"Wir gehen mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass Latour den Schläfer absichtlich deaktiviert hat. Meine Techniker bereiten sich darauf vor, ihn aufzuspüren."
Kelp nickte nachdenklich. "Ich werde eine Einheit losschicken."
Kurzsichtig. Perenelle seufzte. "Davon würde ich abraten. Wenn die Kriminellen um den Marktplatz erst einmal gewarnt sind, wird es die Arbeit unserer Techniker viel schwerer machen."
Kelp schnaubte unwirsch. "Er kann nicht weit sein. Wenn ich jetzt eine Einheit losschicke, dann haben wir ihn in zwei Stunden. Ich gehe jede Wette ein, dass er sich immer noch versteckt hält. Er hat keine Zeit gehabt, zu verschwinden. Je mehr Zeit wir ihm lassen, desto riskanter wird es!"
"Wenn dieser Wichtel sich verstecken will, dann versteckt er sich. Sie kennen die Gegend. Dort finden wir ihn nicht. In dem Moment, in dem Ihre Truppen da einmarschieren, wird Latour gewarnt sein und seine Gastgeber werden noch vorsichtiger sein. Dann haben wir gar keine Chance mehr."
"Wenn wir uns beeilen, dann brauchen wir keine Chance mehr!"
"Die brauchen wir auf jeden Fall, weil Ihre Idee nämlich nicht klappen wird!"
"Wo liegt Ihr Problem? Falls wir nichts finden, können Ihre Techniker immer noch handeln!"
"Nein können wir nicht, weil die Gastgeber von Sylke dann sofort alle Spuren gründlich verwischen!" Warum wollte er das nicht einsehen? Sie zwang sich zur Ruhe. "Ich schlage einen Kompromiss vor. Sie könnten Ihre Truppen den Marktplatz bewachen lassen. Stellen Sie Ihre besten Männer in die Überwachungszentrale. Wenn eine Spur von Sylke erscheint, können Sie sie verfolgen. Aber machen Sie das ganz unauffällig, damit er nichts merkt."
Kelp sah wohl ein, dass er nicht gewinnen konnte. "Vielleicht ein paar Truppen in Zivil... Und wenn Sie in zwei Tagen keine Ergebnisse haben, marschieren wir ein."
Eine bessere Lösung würde Perenelle nicht bekommen. "Einverstanden."
"Gut. Einen schönen Tag noch, Chief." Kelp beendete das Gespräch.
Kleinkindpsychologie. Perenelle seufzte. Seine lächerlichen Versuche, ihr seine Überlegenheit psychologisch zu beweisen, beleidigten sie. Sie hatte über dreihundert Jahre Erfahrung in der Kunst der Diplomatie und darin, anderen Menschen zu überreden. Commander Kelp hatte eine militärische Ausbildung. Er konnte schießen, sich körperlich verteidigen und militärische Taktiken planen und erkennen. Aber er war nie gelehrt geworden, mit Worten umzugehen.
"Ärger?" Timothy lehnte in der Tür, die Perenelle nicht geschlossen hatte.
Sie seufzte. "Ach, Kelp. Es ist so anstrengend, mit ihm zu diskutieren. Er sieht nichts freiwillig ein."
"Ich bin sicher, es wird besser werden." Timothy sah fragend in den Raum und Perenelle nickte. Er trat ein. "Ich glaube, ihr müsst euch erst aneinander gewöhnen."
Perenelle verzog das Gesicht. "Vermutlich. Aber leicht wird es nicht."
Sie sah auf, als ihr Bildschirm anfing zu blinken. "Botschafter Snow. Besser, ich gehe da ran."
Timothy verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich, während Perenelle abnahm. "Ja?"
Das Gesicht des Botschafters erschien auf ihrem Bildschirm. "Perenelle! Wie schön, dich wiederzusehen!"
Perenelle entspannte sich. Artair Snow war ein Freund, sie hatten viel Zeit in Atlantis miteinander verbracht. Sie lächelte und antwortete. "Monsieur L'Ambassadeur. Je suis honorée." Die atlantische Oberschicht liebte diese Sprache. Diese Leute waren größtenteils elitär, hochnäsig, arrogant und Perenelle liebte das. Es war so amüsant.
Artair erwiderte ihr Lächeln, wurde dann aber ernst. "Perenelle, ich rufe in meiner Funktion als Botschafter an. Wie du weißt, hat der Botschafter aus Haven den Dienst verlassen."
"Aus Altersgründen, nicht?"
"Genau. Die Stelle ist jetzt frei. Der Ausschuss hat getagt und sie haben mich hinzugezogen und wir haben uns auf einen Nachfolger geeinigt."
Warum rief er dann an? Perenelle fielen sofort einige Namen ein, die sie empfehlen würde, aber die Entscheidung war doch schon getroffen. "Und?"
"Der Rat hat mir gestattet, dich darüber in Kenntnis zu setzen. Perenelle, wir haben dich gewählt. Wenn du möchtest, kannst du die Nachfolge des Botschafters antreten."
Perenelle starrte ihn an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Artair merkte das. "Du musst dich nicht sofort entscheiden. Ruf mich an, wenn du dich entschieden hast."
Er beendete das Gespräch und ließ Perenelle mit ihren Gedanken alleine.
Acht verlassen. Der Gedanke sickerte nur langsam in sie ein. Acht verlassen... Sie war seit über zweihundert Jahren hier. Sie kannte Acht, sie kannte seine Aufgaben, seine Fähigkeiten, seine Mitarbeiter, sein alles. Der Gedanke, Acht zu verlassen, war ihr nie gekommen. Sie liebte diese Arbeit.
Auf der anderen Seite... Jetzt, wo Vinyáya nicht mehr war, jetzt, wo sie sich mit Trouble Kelp herumschlagen musste und jede Entscheidung vor ihm legitimieren musste, vielleicht war es jetzt Zeit, zu gehen. Der diplomatische Dienst hatte Vorteile, er würde ihr bestimmt gefallen. Perenelle dachte an den Reiz des Spiels, auf Eiern zu tanzen, auf allersubtilstem Weg seinen Willen durchzusetzen... Es faszinierte sie. Mit Trouble Kelp zu reden war wie gegen einen Fels zu rennen. Die Interessen von Haven in der unterirdischen Welt zu vertreten würde bestimmt auch hart sein, aber die Gesprächspartner wären mit Sicherheit sensibler.
Doch konnte sie Acht alleine lassen? Timothy war ein guter Elf, aber er hatte kaum Erfahrung und würde nicht gegen Kelp bestehen können. Acht würde unter Kelps Willen stehen und nach und nach wieder in die LEP eingegliedert. Damit würde die Arbeit von Nan Burdeh und Raine Vinyáya komplett zunichte gemacht. Und das konnte Perenelle nicht zulassen... Vinyáya hatte sie in ihre Position gebracht, um Acht zu verteidigen. Dieses Vertrauen konnte Perenelle nicht enttäuschen.
Trotzdem... Der Posten des Botschafters war aufregend und verheißungsvoll. Vielleicht konnte sie Acht trotzdem beschützen? Oder vielleicht fand sie einen ganz anderen Weg? Sie würde darüber nachdenken müssen.
Perenelle war ihr Leben lang bei Acht gewesen. Ursprünglich hatte sie das Recht des Erdvolks studiert und eine Stelle beim Obersten Gericht angestrebt. Bis zu dem Tag, als die kaum siebzig Jahre alte Studentin von ihrem Professor gebeten worden war, einem Officer der LEP behilflich zu sein und ihn mit der atlantischen Universität vertraut zu machen. Perenelle war der Bitte nachgekommen. Sie hatte sich auf Anhieb mit dem Officer verstanden, obwohl etwa 200 Jahre die beiden trennten. Als ihre Mission beendet war, gab der Officer ihr eine Nummer mit der Bitte, dort anzurufen, wenn ihr gewähltes Fach einmal zu trocken wurde. Perenelle hatte das Angebot dankend angenommen, es aber zuerst abgelehnt.
"Ich glaube, ich bin nicht für körperliche Konfrontationen gemacht", hatte sie erklärt. "Die LEP hätte nicht viel von mir."
Commander Raine Vinyáya hatte gelächelt. "Um die körperlichen Konfrontationen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Und von der LEP habe ich nie etwas gesagt."
Perenelle bekam riesige Augen und schloss den Mund.
"Sie sind klug und scharfsinnig, und wir könnten Sie gut gebrauchen." Sie gab Perenelle den Zettel erneut. "Rufen Sie mich an, wenn Sie es sich anders überlegen."
Ein paar Monate später und mit ihrem Abschluss in der Hand hatte Perenelle dann dort angerufen. Eine Sache führte zur nächsten und Perenelle verbrachte die nächsten zweihundert Jahre im Geheimdienst von Haven City, davon die letzten hundert Jahre an Vinyáyas Seite als ihre Stellvertreterin. Sie hatte ihre Entscheidung nie bereut. Die Arbeit in Acht war fordernd - Perenelle musste immer auf der Hut sein, sie durften bei ihrer Arbeit niemals Spuren hinterlassen, sie grübelte manchmal tagelang über ein Problem - aber es war niemals langweilig.
Nach ein paar Stunden des Hin- und Herwälzens stand Artemis frustriert auf und machte das Licht an. Er setzte sich an seinen Computer und hackte sich in den LEP-Server ein. Weil er so schlecht gelaunt war, beschwerte er sich bei Foaly über das unpraktische Layout. "Sehr geehrter Mister Foaly", schrieb er, "Ihr Layout ist für alle mit Ihrer Software nicht vertrauten Benutzer eine Katastrophe. Im Namen all dieser möchte ich Sie nachdrücklichst darum bitten, sich um eine übersichtlichere Gestaltung zu bemühen und stattdessen den Verschlüsslungscode zur Unkenntlichmachung zu nutzen. Wo wir schon dabei sind, die Dokumentesicherheit ist übrigens eine Katastrophe. Mit freundlichen Grüßen, Artemis Fowl II." Als er das abgeschickt hatte, ging es ihm überraschenderweise jedoch auch nicht wirklich besser. Für einen kurzen Moment zauberte die freundschaftliche Neckerei ihm ein Lächeln ins Gesicht, aber dann verschwand es wieder. Er tippte mit seinen langen Fingern ratlos auf den Bildschirm und fragte sich, was er tun sollte. Er war kein bisschen müde. Dann fiel ihm etwas ein und er öffnete die Satellitenkarte der LEP. Einen kurzen Moment sah er sich Dublin an und tippte dann sein Haus an. Artemis grinste, als sich ein Fenster öffnete und Lilli Frond einen kurzen Infotext zu Butler und ihm herunterratterte. Es war keine Warnung mehr, sondern eine fast neutrale Präsentation, die seine Verdienste um das Erdvolk erwähnte.
Artemis hörte sich den Text zu Ende an, schloss das Fenster und suchte Island auf der Karte. Er fand das Haus, in dem er vor einigen Wochen die missglückte Präsentation gehalten hatte. Die Wärmebildkamera zeigte ihm, dass sich ein Mensch darin befand, vermutlich Adamsson. Alles sah ruhig aus. Die Explosion hatte das Haus zum Glück nicht erwischt, jedenfalls nicht, dass Artemis es mitbekommen hatte. Und nachdem er keinen Anruf von Adamsson bekommen hatte, ging er davon aus, dass wirklich nichts passiert war.
Artemis schweifte mit der Kamera ein bisschen weiter nördlich, bis er an ein Gebirge kam. Ohne zu wissen, was er suchte, überflog er das Gebirge. Plötzlich stutzte er, blieb stehen und zoomte an das Eis heran. Zwei Kreise waren in den Schnee gezeichnet, ähnlich denen aus seinem Traum. Die Zeichen darin fehlten jedoch. Artemis machte einen Screenshot. Sein Gehirn lief auf Hochtouren. Ein kurzer Blick auf Witterungsverhältnisse bestätigte ihm, dass keinerlei kreisförmige Winde an dieser Stelle auftraten. Artemis spulte das Live-Video zurück. Ein paar Stunden vorher waren die Kreise auf einmal weg. Er ließ das Video normal weiterlaufen. Um Punkt 01.32 erschienen die Kreise aus dem Nichts. Das Video hatte schon Sichtschildfilter und wahrscheinlich alle möglichen anderen Formen der Enttarnung, da die Technik Acht gehörte. Artemis öffnete seine eigenen Enttarnungsprogramme und wendete diese an. Immer noch nichts. Er sah sich die entscheidende Stelle noch ein paar mal ganz langsam an. Das half nicht weiter. Er spulte noch ein paar Stunden vor. Auch kein Hinweis.
Die Kamera von Acht konnte das Felsgestein nicht durchdringen, vermutlich war es zu dick. Das fand Artemis extrem verdächtig, doch dann probierte er zur Überprüfung andere Felsformationen durch und bemerkte den gleichen Effekt.
Dann kannst du dich ja mal nützlich machen, Foaly, dachte Artemis und schickte dem Zentaur die wichtigen Videoausschnitte zusammen mit der Bitte, eine seiner halblebendigen Kameras zu dem Fels zu schicken. Er sah auf die Uhr - es war kurz vor fünf. Artemis rieb sich die Schläfen. Seine Augen brannten. Nach einem letzten Blick auf den Schneekreis fuhr er den Laptop herunter und ging wieder ins Bett. Er kroch unter seine Decke, schloss die Augen und der Schlaf kam.

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