2. Eine fremde Welt

1.2K 95 25
                                    

»Gefällt dir dein Zimmer? Auch wenn du nicht lange bleibst, möchte ich dennoch, dass du dich in dieser Zeit wohl und geborgen fühlst«, sagt Gaia, während ich mich in diesem wunderschönen Raum umsehe.

»Wie könnte es jemandem nicht gefallen?«

Das Zimmer ist riesig. Ich habe ein großes, weißes Himmelbett, einen Schreibtisch, ein volles Bücherregal und die lebendigen Wände zeigen über ihre ganze Fläche Bilder von einem Wald, woraufhin ich mich sofort heimisch fühle. Es ist fast als hätte ich ein Bett mitten in den Bäumen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Tür ist ein großer Erker mit breiter Fensterbank und Sitzkissen. Nur die Aussicht ist noch schöner als das Zimmer. Vorsichtig trete ich ans Fenster und kann meinen Mund nicht mehr geschlossen halten.

»Atemberaubend«, hauche ich ehrfürchtig. Gaias Haus steht auf einem felsigen Stück Land, welches durch ein Meer von Wolken zu schweben scheint. Der Himmel ist in ein zartes Rosa getaucht und von meinem Fenster aus kann ich auf einen riesigen Kirschblütenbaum sehen, der umgeben von einem Meer aus Wolken an einer Klippe wächst.

»Wo sind wir hier?«, frage ich und bemerke, dass Gaia direkt neben mir steht. Ihre schillernden Augen begutachten ebenfalls den Kirschblütenbaum, durch dessen rosafarbene Blüten die Sonne zu uns herüberstrahlt.

»An dem Ort, an dem ich geboren wurde«, sagt sie schließlich und ich sehe wieder hinaus.

»Was ist unter den Wolken?« Ich kann meine Neugier kaum im Zaum halten. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Gaia ihre Hand bewegt und draußen die Wolken verschwinden. Hinter ihnen ist nichts … nur die Schwärze und die funkelnden Sterne eines klaren Nachthimmels. Wir befinden uns tatsächlich auf einem Stück Land, das irgendwo herausgebrochen zu sein scheint. Ich schlucke und versuche die Sonne über der Erde und den Nachthimmel unterhalb der Klippen in meinem Kopf sinnvoll zu vereinigen, aber es gelingt mir nicht. Gaia entfernt sich von mir und öffnet eine Tür zu meiner Rechten.

»Hier findest du Kleidung«, sagt sie und ich betrachte das kleine Ankleidezimmer mit großem Spiegel und vollen Kleiderstangen. »Und direkt daneben hast du ein Badezimmer.«

Ich nicke. »Danke, Mutter aller Dinge.«

»Nenn mich Gaia … oder Mutter.« Sie zwinkert mir zu. »Schließlich bist du jetzt meine Tochter, Maya.« Die Göttin wirkt nachdenklich. Eine Blumenranke schlängelt sich wie ein Haarreif um ihren Kopf und lässt rote Blüten sprießen. »Von allen Auserwählten, die bisher in meinem Reich waren, bist du mir die liebste.«

Ich will etwas sagen, widersprechen, aber ich halte es für unangebracht, einer Göttin so ins Wort zu fahren.

»Wenn du noch etwas brauchst, gib mir Bescheid.« Sie sieht mich ernst an und ich nicke. »Ich hole dich zum Mittagessen ab. Versuch in der Zeit deine ersten Eindrücke und dich selbst zu sammeln. Es ist mir klar, dass du im Moment noch unendlich traurig bist, aber ich verspreche dir, dass sich das ändern wird.«

»Danke«, sage ich voller Hoffnung darauf, dass ihre Worte die Wahrheit sind. Aber wer außer ihr sollte es sonst wissen? Gaia steht bereits an der Tür, als sie sich noch einmal zur mir umdreht.

»Ach Maya, … keine Angst vor Nevis.« Sie zwinkert mir zu und verschwindet, bevor ich etwas sagen kann. Vollkommen erschöpft setze ich mich auf das große Himmelbett und beobachte eine ganze Weile die lebendigen Wände und ihre Bilder von Vögeln, die durch die Baumkronen des Waldes hüpfen. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Finger zittern, weshalb ich sie unter meine Oberschenkel lege, um sie zu wärmen und stillzuhalten. Was soll ich nur bis zum Mittagessen tun? Ich möchte nicht an all das denken, was ich zurückgelassen habe.

»Meine Tasche!«, rufe ich meinen Gedanken laut heraus. Die Tür zum Ankleidezimmer geht wie von Geisterhand auf und als ich mich erhebe und hineinspähe, finde ich meine Reisetasche auf dem Boden.

Morgentau. Die Auserwählte der Jahreszeiten - exklusive LeseprobeWhere stories live. Discover now