Kapitel 5

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Schon beim Aufwachen hatte ich das Gefühl, dass dieser Tag besser werden würde als der vorherige, nicht zuletzt, weil ich direkt in den ersten beiden Stunden Kunst hatte. Motiviert hüpfte ich aus meinem Bett und lief ins Bad, duschte mich, zog mich an und richtete meine Haare. Als ich wieder in unser Zimmer kam, war Tim immer noch nicht aufgewacht und als ich genauer hinsah, merke ich, dass seine Augen leicht geschwollen und gerötet waren. Er hatte geweint und das augenscheinlich ziemlich lange. Offenbar setzte ihm die Sache mit seinen Eltern mehr zu, als er zugeben wollte. Während ich meine Schulsachen zusammenpackte, wanderte mein Blick immer wieder zu Tim hinüber und unterbewusst wartete ich darauf, dass er von selbst aufwachte, damit ich ihn nicht wecken musste. Denn ich war mir ziemlich sicher, dass er wütend wäre, wenn ich ihn aufweckte, aber wenn er verschlief, wäre ich auch schuld. Irgendwas musste ich also tun, deswegen ging ich vorsichtig auf ihn zu und stupste Tims Schulter an. Nichts passierte, also schüttelte ich ihn leicht und sagte immer wieder: „Tim, aufwachen! Komm schon, Tim!", und irgendwann schlug er endlich die Augen auf. Sofort wich ich einige Schritte zurück, falls er wütend werden würde, weil ich ihn ja geweckt hatte, doch stattdessen sah er mich nur mit einem seltsam durchdringenden Blick an und fragte irgendwann unvermittelt: „Warum hast du solche Angst vor mir?" Ernsthaft? Das fragte er noch? Hatte er denn die letzten vier Jahre nichts mitbekommen? „Weil mich bisher alle, mit denen ich im Zimmer war ständig verprügelt haben...?", antwortete ich mit einem gleichzeitig ängstlich und irgendwie trotzdem herablassenden Tonfall. „Aber... hab ich dir denn vorher jemals was getan?", fragte Tim jetzt. Nein, das nicht, aber: „Das haben die anderen ja auch nicht und trotzdem haben sie mir dann mein Leben zur Hölle gemacht!" Und mit diesen Worten schnappte ich mir meinen Rucksack und verließ schnell das Zimmer. Während der Kunststunde vertiefte ich mich ganz in meine Zeichnung, doch in den Stunden danach konnte ich nur noch an das Gespräch mit Tim denken. Zum Glück hatten wir am Freitag nur bis zur sechsten Stunde Unterricht, sodass ich schnell wieder auf mein Zimmer kam. Erschöpft ließ ich mich dort in mein Bett fallen und schloss die Augen, doch meine Ruhe wurde abrupt unterbrochen, als jemand plötzlich die Türe aufriss und jemand hereinstürmte. Ich erschrak mich fürchterlich, setzte mich ruckartig auf und starrte plötzlich in das Gesicht von Tim. Er hatte schon wieder geweint und ließ sich auf sein Bett fallen. Diesmal zögerte ich keine Sekunde, sondern lief zu ihm und nahm ihn in den Arm. Erleichtert ließ er sich gegen mich sinken. Dass wir uns gerade ziemlich nah waren schien ihn nicht zu stören und mir machte es auch nichts aus, im Gegenteil, irgendwie gefiel mir der Körperkontakt sogar. Tim krallte sich in mein Shirt und fing jetzt tatsächlich an, hemmungslos zu weinen. Schon bald hatte mein Oberteil einen riesigen nassen Fleck und Tim schluchzte nur noch leise. Irgendwann hörte er ganz auf zu weinen, ließ mein Shirt los und setzte sich vorsichtig auf. Bittend sah ich ihn an und fragte leise: „Tim, was ist los? Ist das wirklich nur wegen deinen Eltern?" Lange sah er mich nur ausdruckslos an, bis er endlich leise antwortete: „Nein, da ist auch noch was Anderes. Äh, kannst du ein Geheimnis für dich behalten?", sofort nickte ich zustimmend und Tim redete weiter: „Also ich... ich hab mich verliebt." Irgendwie versetzte mir dieser Satz einen Stich. Eiversucht? Nein, wohl eher Neid, da ihm das Glück der Liebe vergönnt war und mir eben nicht. Tim ließ seinen Kopf entmutigt sinken und ich sagte vorsichtig: „Aber das ist doch nicht schlimm! Du bist beliebt und ich glaube, über die Hälfte der Mädels in der Jahrgangsstufe würden dir zumindest ne Chance geben, du musst sie nur ergreifen!" Doch meine Worte hatten nicht die gewünschte Wirkung, im Gegenteil, Tim sah eher noch entmutigter aus. „Ja, das vielleicht", fing er schließlich wieder an, „Aber es ist... also... ach man Stegi ich bin schwul!" Beim Sprechen war er unvermittelt lauter geworden, doch die Energie, die sich kurz in ihm aufgestaut hatte, schien langsam wieder zu entweichen und zurück blieb ein in sich zusammengesunkener Junge, dem die Tränen schon wieder über die Wangen liefen. Ich wollte gerade zum Sprechen ansetzen, doch Tim unterbrach mich: „Ich weiß, du willst jetzt sagen, dass es nicht schlimm ist, oder dass es dir nichts ausmacht, aber das ist es ja, es ist nichts Schlimmes, aber schau dir an, was passiert ist, als du dich geoutet hast! Ich habe Angst, dass mir das auch passiert!" Verblüfft sah ich ihn an. Es stimmte irgendwie, was er sagte, aber wenn er mit dieser Einstellung an die Sache ranging, konnte ich ihm auch nicht helfen. Scheinbar schien er zu wissen, was ich dachte, denn leise begann er wieder zu sprechen: „Ich weiß, dass die Person nichts gegen Homosexuelle hat. Er ist ja sogar selbst schwul, aber ich hab Angst, dass er es herum erzählt. Ich konnte ihm zwar immer vertrauen, aber wenn ich wirklich mit ihm zusammen komme, will er das bestimmt öffentlich machen und das kann ich nicht!" Verblüfft sah ich ihn an und meinte dann: „Aber, wenn du weißt, dass er schwul ist, dann ist das doch perfekt! Und ich glaube, wenn er dich wirklich liebt, dann geht er auch auf deine Bitten ein. Du musst es versuchen! Und selbst wenn es rauskommen sollte, denk immer dran, du musst es nur noch dieses eine Schuljahr hier aushalten, ich hatte damals noch fünf Jahre vor mir und hab's auch geschafft. Und wenn du mit dem Jungen zusammen kommst, dann könnt ihr das ja gemeinsam durchstehen!" Wieder waren wir beide davon überrascht, wie viel ich geredet hatte, aber mir war das Thema wichtig. Ich wollte nicht, dass er dasselbe durchmachen musste wie ich. Tim hingegen sah mich hoffnungsvoll an und fragte dann: „Und wie soll ich das machen? Also es ihm sagen?" Kurz überlegte ich und meinte dann: „Wenn du ihm vertrauen kannst, dann sag's ihm einfach. Er wird's schon nicht rumerzählen, auch wenn er die Gefühle nicht erwidert. Und wenn doch, dann ist es umso besser." Nachdenklich sah Tim mich an und nickte langsam. Schließlich wurde sein Gesichtsausdruck entschlossener und er sagte: „Okay, ich rede dieses Wochenende mit ihm. Danke für die Hilfe Stegi!" Kurz umarmte er mich, ließ mich dann aber ruckartig wieder los und setzte sich an seinen Schreibtisch um mit den Hausaufgaben anzufangen, was ich ihm schließlich gleich tat. Etwa eine halbe Stunde lang saßen wir schweigend da, die einzigen Geräusche waren lediglich mal ein raschelndes Blockblatt oder das leise Kratzen eines Stifts auf dem Papier. Irgendwann hörte ich neben mir ein leises Scheppern und als ich auf sah, bemerkte ich, dass Tim seinen Kopf entmutigt auf die Tischplatte hatte fallen lassen. Verwundert fragte ich: „Tim? Ist alles Ok?" Verzweifelt antwortete er: „Ich checke diese Aufgabe einfach nicht!" Schnell stand ich auf und ging zu Tims Tisch hinüber. „Worum geht's denn? Latein?", fragte ich mit einem Blick auf seine Notizen. „Ja, wir müssen elegische Distichen skandieren und ich hab absolut keinen Peil, wie das geht." „Okay, das ist eigentlich ganz leicht, ich kann's dir erklären, wenn du willst", bot ich an. Sofort nickte Tim erleichtert und ich wollte mich gerade umdrehen, um meinen Stuhl zu holen, da wurde ich an der Hüfte gepackt und ehe ich mich versah, saß ich auf Tims Schoß. Erschrocken sah ich ihn an, doch er grinste nur und meinte gelassen: „Geht schneller so!" Leicht verunsichert begann ich also, Tim Latein zu erklären und wie beim ersten Mal passte er genau auf und schaffte es schließlich sogar, ein ganzes Epigramm richtig zu skandieren. Positiv überrascht sah ich ihn an und sagte: „Das ist komplett richtig! Gut gemacht!" Zufrieden grinste er mich an und bedankte sich. Wie schon bei Mathe meinte er dann, ich solle doch Lehrer werden. Als ich allerdings Anstalten machte, wieder aufzustehen, hielt Tim mich einfach fest. „Du bist so schön warm, bleib sitzen!", murmelte er in meine Schulter. Eigentlich hätte ich mir ja komisch vorkommen müssen, aber irgendwie genoss ich unseren Körperkontakt gerade viel zu sehr, um abzublocken, also lehnte ich mich an Tim, woraufhin dieser seine Arme um mich legte. Lange schwiegen wir einfach, bis Tim irgendwann doch begann, zu reden: „Stegi, diese Frage von heute Morgen, die war ernst gemeint. Also warum du solche Angst vor mir hast. Ich meine, ich kann verstehen, dass du viele Probleme mit deinen früheren Mitbewohnern hattest, aber ich hab dir ja wirklich nichts getan und ich habe eigentlich nichts gegen dich, deswegen hab ich auch immer versucht, freundlich zu dir zu sein. Aber du misstraust mir trotzdem. Warum?" Ich hatte gewusst, dass diese er Frage früher oder später noch einmal stellen würde, also nahm ich mich zusammen und fing an, zu erklären: „Also, ich war noch nie jemand, der viel mit anderen geredet hat. Ich war schon vor der achten Klasse eher zurückhaltend und schüchtern. Und nach meinem Outing haben mich plötzlich alle gehasst. Viele haben mich wegen allem geschlagen oder mir zumindest mit Schlägen gedroht, also habe ich angefangen, bei jedem sofort misstrauisch zu sein, da ich nie wusste, wie er sich später noch verhalten würde. Oft waren die Leute anfangs noch nett und es hat sich erst nach einer Zeit rausgestellt, dass sie mich dann doch ausnutzen wollten. Und davor habe ich Angst. Und die kann ich nicht einfach abstellen, auch nicht bei dir, dafür bin ich schon zu oft enttäuscht worden." Es war das erste Mal gewesen, dass ich das jemandem erzählt hatte, der selbst zu dieser Gruppe gehörte, die mir Angst machte. Ich hatte keine Ahnung, wie Tim reagieren würde, aber ich hatte das Gefühl, dass ich ihm vertrauen konnte, immerhin hatte er mir auch zwei seiner größten Geheimnisse anvertraut. Eine Zeit lang schien jeder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, doch irgendwann brach Tim wieder die Stille: „Kann ich dir vertrauen?" Ich antwortete mit einem Nicken und Tim sprach sofort weiter: „Okay, ich will nämlich, dass du weißt, dass du mir auch vertrauen kannst. Und ich will dich nie enttäuschen, dafür bist du mir viel zu wichtig!" Verblüfft drehte ich mich zu Tim um und sah ihn erstaunt an. Ich war ihm wichtig? Doch er redete einfach weiter und ließ mir nicht die Zeit, um über seine Worte nachzudenken: „Stegi, du hast vorhin gemeint, dass ich es dem Jungen, in den ich mich verliebt habe einfach sagen soll. Also... Stegi, ich liebe dich." Erwartungsvoll sah er mich an, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er liebte mich! Aber was war mit mir? Ich hatte mir nie Gedanken darüber machen wollen, aus Angst, enttäuscht zu werden, aber jetzt sah die Sache anders aus. Ich wollte Tim wenigstens eine Chance geben, deswegen beugte ich mich zu ihm, sodass unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren und wisperte: „Ich weiß nicht genau, was ich für dich empfinde, aber ich denke, das kann man rausfinden" Dann vereinte ich unsere Lippen.

Stexpert Action wohooooo (/*~*)/

Bye!

Stexpert - Nur in diesem ZimmerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt