»Okay, schieß los« wagte ich es zu sagen.

Er sah mir in die Augen und dachte nach. In dem Augenblick wurde mir klar, dass dieser Typ niemals wie Toprak war. Keiner seiner Bewegungen ähnelte ihm. Sogar seine Blicke waren anders. Ich fragte mich, ob Toprak genau so wäre, wenn er noch hören könnte.

»Wie ist sein echter Name?« fragte er und steckte seine Hände in die Hose.

»Dein Ernst?« lachte ich und atmete aus »Ich dachte schon, du willst mir eine schwierige Frage stellen.«
Verblüfft beobachtete er meine Reaktion und zuckte seine Schultern.
»Yusuf Karadağ« antwortete ich trocken und er nickte. Er sah sich um und lief an mir vorbei.

»Hey! Wohin-?«
»Sei morgen um 10 hier« rief er über seine Schulter und lief zügig den Abhang runter.

Was für ein merkwürdiger Typ.

*

»Wo warst du?!« wollte Ünal wissen. Er war der Einzige, der aufgestanden ist, als ich in die Wohnung eintrat. Alle saßen verteilt im Wohnzimmer und tranken Çay. Auch Nurgül teyze und Cennet.

»Wie ich am Telefon gesagt habe« antwortete ich lächelnd »Ich wollte alleine sein.«
»Alleine? In Istanbul?«

Er wurde immer lauter und zögerte nicht einmal, sich neben unseren Verwandten zurück zu halten.

»Ünal. Wenn du jetzt nicht aufhörst« drohte ich diesmal auf deutsch, damit Cennet und ihre Mutter nichts verstanden. Aber Nurgül teyze war nicht dumm. Sie konnte sich wohl denken, was hier abging.

»Was soll diese Taktlosigkeit, Ünal?« fragte Nurgül teyze ernst »Muss ich dich erinnern, dass du hier zu Gast bist und dich wie einer benehmen solltest?«

Sofort zog sich Ünal zurück. »Es tut mir leid, aber Sie sehen doch, wie außer Kontrolle sie-«

»Achso« unterbrach sie ihn selbstbewusst und machte es sich in ihrem Sessel gemütlich »Korrigiere mich bitte, wenn ich falsch liege, aber... Was genau bist du zu Züleyha? Verlobter? Freund? Du hast nichts zu entscheiden.«

Mit einem kurzen Lächeln beendete sie das Thema und Ünal setzte sich zurück neben seinen Bruder.

»Wenn morgen das Wetter nicht so regnerisch wird, wollen wir gemeinsam hoch zu Çamlıca. Von dem Hügel aus hat man abends eine schöne Aussicht« Cennet gab sich große Mühe, die Atmosphäre zu kühlen, aber das war unmöglich. Ünal war nach der unsichtbaren Ohrfeige von Nurgül teyze enorm angespannt.

Als alle schon im Bett waren, ging ich meine Fotos durch und übertrug sie auf mein Laptop. Auf dem Foto mit der weißen Katze Muezza musste ich stoppen und dachte darüber nach, was der Ladenbesitzer erzählt hatte. Ein stilles Leben. Die Katze hatte wunderschöne Augen und blickte auf die Straße hinunter, als ob die Gegend ihr gehören würde. Ich musste grinsen. Plötzlich merkte ich im Hintergrund eine bekannte Figur. Ich zoomte ran und erkannte die grüne Jacke sofort. War er etwa an mir vorbeigelaufen? Hatte er mir nicht gesehen? Ein merkwürdiger und ungeplanter Gedanke huschte durch meinen Kopf... Wäre er nicht taub gewesen, hätte bestimmt die Glocke gehört.

Am nächsten Morgen stand ich als Erste auf und zog mich schnell um. Ich wollte auf keinen Fall Toprak verpassen und musste rechtzeitig ankommen.

»Gehst du raus?« fragte Nurgül teyze freundlich, als ich an der Küche vorbeischlich. Sie saß am gedeckten Frühstückstisch und schien mit jemandem zu chatten.

»Du hast mich erschreckt« lachte ich peinlich und zögerte, um ihr zu antworten. Würde sie mich meiner Mutter petzen? »Um ehrlich zu sein, treffe ich mich mit jemandem.«
»Hat sich Ünal etwa entschuldigt?« wollte sie neugierig wissen.

Ich schluckte schwer. »Nein. Ich... treffe mich nicht mit Ünal.«
»Gut. Sonst hätte ich dich nicht raus gelassen.«

Sie ist der Hammer. Wir lächelten uns kurz gegenseitig an und ich stellte mir vor, wie einfacher doch alles wäre, wenn meine Mutter genau so aufgeschlossen wäre.

»Danke, teyze. Für gestern.«
Sie schüttelte ihren Kopf. »Quatsch. Ihm musste mal jemand zeigen, wo sein Platz ist.«
»Wartest du auf deinen Ehemann?«
»Ja!« sagte sie glücklich »Er kommt gleich, aber muss erst seinen LKW abliefern.«

Ich verabschiedete mich und versprach, nicht all zu spät zu kommen, weil wir abends hoch zum Çamlıca wollten.

Die Morgenluft wurde vom Bosporus bis in unseren Stadtteil hergeweht und trug den Geruch von frischem Çay aus den Läden mit sich. Schulkinder rannten den Abhang hoch und die vielen Händler hatten ihre Produkte bereits auf die Straßen gestellt.

Nachdem der Bus zum Beykoz Baruthane Parkı endlich am Ziel ankam, stieg bei mir endgültig die Panik hoch. Ich hatte tausend Fragen an Toprak und war bis hierher gekommen, um ihn an einem Ort zu treffen, wobei ich mir nicht einmal sicher war, ob er auftauchen würde. Es war einfach nur ein wenig Hoffnung, was mich bis an diese Akademie gebracht hatte.

Parmakların Sesi. Das Schild machte mir plötzlich Bauchschmerzen, als ich davor stehen blieb. Auf einmal hatte ich Zweifel. Wieso würde Toprak einfach so Roland zurück lassen, wenn er doch verletzt war und so nicht arbeiten konnte? Außerdem machte es keinen Sinn, dass sein Zwillingsbruder mich um diese Uhrzeit hierher gerufen hatte, ohne einen Nachweis, dass Toprak kommen würde. Er kam mir sowieso nicht vertrauenswürdig vor. Hatte ich einen Fehler gemacht, an die Akademie zu kommen? Ich war sowieso verwirrt, warum die Brüder ihre Namen getauscht hatten!

Ich schüttelte meinen Kopf und löschte alle Fragen aus meinem Kopf. Es war genau zwei nach zehn, als ich hinter mir Schritte hörte. Bevor ich mich umdrehte, um wieder enttäuscht zu werden, dass es nur ein Fußgänger war, hörte ich zu, ob die Person weiter lief.

Aber die Schritte blieben stehen. Noch schlimmer. Dieser Jemand räusperte sich.

»Züleyha?« flüsterte die zerbrochene Stimme, die ich so sehr vermisst hatte. Ich erstarrte und konnte mich nicht umdrehen. Das bilde ich mir wieder ein. Es ist meine Verzweiflung.

Er lief um mich herum und stand nun direkt vor mir. Seine Haare waren wilder als zuvor und er sah müde und erschöpft aus. Er senkte seinen Kopf leicht runter, um auf Augenhöhe zu sein. Dann blickte er verwirrt, schockiert und total fassungslos in mein Gesicht, um zu sehen, ob es wirklich die Züleyha war. Ihm entwich ein kurzes Schmunzeln und ich erkannte Freude in seinen müden Augen.

In mir schien etwas schon vor langer Zeit gestorben zu sein. Es war Vertrauen und Geborgenheit, die ich zu meiner Familie und vor allem gegenüber Ünal verspürt hatte. Alles war verloren gegangen. Diese Leere hatte ich zwangsweise ignoriert und versucht zu vergessen, um nicht den Verstand zu verlieren. Doch ich empfand es plötzlich wieder. Es war aber mehr als Geborgenheit; Es war Liebe. Und ich wusste, dass die Quelle dazu, sein Lächeln gewesen ist.

In dem Moment konnte ich mich nicht halten und tat das, was ich dringend brauchte. Ich klammerte mich um seinen Hals und umarmte ihn fest.

Sprechende HändeWhere stories live. Discover now