Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken

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~Mile~

Er strich über das Glas, befreite es vom Staub. Das Gesicht einer Frau kam darunter zum Vorschein. Ihre Züge waren scharf, das Haar weiss wie Milch.
Sie hatten sich in das Inkoleum zurückgezogen. Hier versorgten sie die Verwundeten, hier würden sie die Nacht überdauern. Die Leichen hatten sie auf einen Karren geladen, einige Strassen weiter gefahren und sie dort verbrannt. Nur die Körper der verstorbenen Märchenfiguren hatte man ins Inkoleum gebracht. Gläserne Särge gab es für sie noch nicht, dafür hatte jeder von ihnen ein steinernes Podest gefunden. Das hätten sie gerne mit all ihren Gefallenen gemacht, doch leider war es ein Privileg der Tintenwesen, dass ihre Körper nicht von bösen Geistern besessen werden konnten und niemand war sonderlich erpicht darauf, am nächsten Morgen von einer Horde Nekromanern geweckt zu werden, selbst wenn diese sicher irgendwo hätten weggesperrt werden können. Platz genug gab es, denn das Inkoleum war gross. Hohe Gewölbedecken, Säulen, steinerne Ornamente im gotischen Stil prägten die Räume, machten sie bedrohlich, aber auch irgendwie ruhig und erfüllten einen mit Ehrfurcht. Die Särge standen in Reihen. Ihre Kanten bestanden aus Metall, der Rest war jedoch tatsächlich aus Glas. So hatte es sich gehört, tote Märchenfiguren aufzubahren, bis sie wieder lebendig werden würden. Erkennen, wer in den Särgen lag, konnte man aufgrund der Staubschicht nicht und obwohl er seiner Neugier eben nicht hatte widerstehen können, würde er die restlichen in Frieden lassen. Heute hatte er genug Tote gesehen.
»Wer war sie?«
Nimmertiger, der neben ihm stand, deutete auf eine Plakette, die am Fussende des Sargs angebracht war. »Danija Strehle«, las er vor und er nickte wissend. Als er Miles fragenden Blick bemerkte, ergänzte er: »Sterntaler.«
»Ach so...« Er liess seinen Blick auf ihrem ruhenden Gesicht weilen. »Steht da auch, seit wann?«
»Zweihundertvierzig Jahre.«
Mile schluckte. Die Dunklen... Er blinzelte und liess die Augen über die anderen Glassärge gleiten, die sich unter der Gewölbedecke reihten wie Betten in einem Lazarett. Waren sie auch alle dem Putsch zum Opfer gefallen?
»Komplette Amnesie.«
Abrupt wurde er aus seinen düsteren Gedanken gerissen. Die Hellelfe, die Nimmertiger damit beauftragt hatte, Peter zu untersuchen, hatte sich zu ihnen gesellt. Sie war blass, müde wie sie alle.
»Und sonst ist alles mit ihm in Ordnung?«, fragte Nimmertiger ernst.
Die Elfe nickte. Mile bemerkte, wie sich der Blick ihrer leicht schrägstehenden Augen immer wieder auf Nimmertigers Stirn heftete, wo die Krone, die einst ihrer eigenen Königin gehört hatte, sein Haupt zierte. Sie machte keinen feindseligen Eindruck, doch sie war eindeutig irritiert.
Mile wischte sich den Staub an der Hose ab. »Wir er sich irgendwann erinnern können?«
Die Heilerin zuckte scheu mit den Schultern. »Kann ich nicht sagen. Vielleicht. Ausgeschlossen ist es nicht.«
»Danke Eloise, dann geh und sieh nach den anderen. Die Schwerverletzten sind bereits versorgt, aber vielleicht braucht sonst noch jemand deine Hilfe.« Er lächelte und nickte der jungen Elfe zu. Diese machte einen Knicks und verschwand.
Mile reckte den Hals und beobachtete Peter, der damit beschäftigt war, sich seine Staubhaut abzuwaschen. Dafür tauchte er beide Hände immer wieder in einen kleinen Brunnen in der Mitte des Raums, der von der Form her an ein Taufbecken erinnerte.
»Wie kann das sein?«, fragte er den jungen König leise. »Wir haben es alle gesehen, wie er gestürzt ist. Aus so einer Höhe, er müsste tot sein! Aber er lebt und hat nicht einen Kratzer!«
»Genau erklären kann ich es dir nicht, aber ich habe da eine Theorie.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Es ist wohl offensichtlich, das Peter gealtert ist.«
»Der Alterungsprozess ist doch sowieso kein Thema für Märchen«, meinte Mile skeptisch und lehnte sich an die mit einem düsteren, verwaschenen Fresko verzierte Wand.
Nimmertiger wog den Kopf hin und her. »Kommt drauf an. Ja, eigentlich können wir so alt aussehen, wie wir wollen. Es gibt aber dieses eine Alter, das uns am wohlsten ist. Ich bin auf dem psychischen Stand eines jungen Erwachsenen. So fühle ich mich wohl. Mondkind hingegen steckt im Körper einer Vierjährigen fest, obwohl sie schon mehrere hundert Jahre alt ist.« Er musterte Mile, wie um sicher zu gehen, dass er ihm folgen konnte. »Bleibt deine Psyche irgendwo stecken, tut es auch dein Körper. Das ist meistens irgendein Trauma. Das Ganze ist ein verfluchter Teufelskreis, denn wenn du nicht alterst, kannst du deine Vergangenheit auch nicht überwinden. Du steckst fest.«
»Aber Peter ist doch der Junge, der niemals erwachsen wird. Was falsch ist, denn sieh ihn dir jetzt an!«
Nimmertiger nickte erneut und das so heftig, dass er seine Krone richten musste. »Ich kann es mir nicht anders erklären als so: Peter war versessen auf die Schuld, die er seinem Bruder am Tod seiner Schwester gab, das haben wir ja alle während der letzten Ereignisse auf der Jolly Roger mitbekommen. Aber indem er ihm verziehen hat, hat er die Geschichte überwunden.«
»Im wahrsten Sinne des Wortes: Loszulassen, hat ihm ermöglicht seine Vergangenheit zu überwinden?«
»Ganz genau. Er wird den Sturz irgendwie überlebt haben, vermutlich gerade so. Der Alterungsprozess hat seine Heilung dann unterstützt. Nehme man eine ordentliche Priese Glück und extra viel Wunder sowie einen heftigen Schlag auf den Kopf, dann bekommt man diesen jungen Mann, neugeboren, ohne Lasten.«
»Ein Wunder...«, wiederholte Mile. Es kam ihm unwirklich vor, dass es in Zeiten wie diesen noch Wunder geben sollte.
Nimmertiger seufzte und hob sich die Krone vom Kopf. »Mile, würdest du mir einen Gefallen machen?«
»Klar, um was geht es?«
»Komm mit.«
Nimmertiger führte ihn aus dem Raum in den nächsten. Hier hatte sich ein Grossteil der aus circa zweihundert Hybriden bestehenden Truppe zusammengefunden. Eng sassen sie beieinander, spendeten sich Wärme und Geborgenheit. Die Distanz, die man normalerweise zu Fremden hegte, war verloren. Wen hatte man denn sonst, als einander?
Nimmertiger führte sie aus dem Inkoleum ins Freie. Die Monde standen bereits am Himmel, die Sterne glitzerten auf sie herab. Es war still geworden. Der Kampflärm war versiegt, die beiden Fronten schenkten sich die Nacht um zu ruhen, Energie zu tanken. Morgen würden sie wieder übereinander herfallen. Sollte es in der Nacht doch Angriffe der Dunklen geben, hatten sie einige Wachen aufgestellt, darunter auch die weisshaarige Elfe Sookie.
»Was willst du hier draussen?«, fragte Mile den jungen König. Automatisch legte er eine Hand auf den Knauf des Chepesch. Die Nacht gehörte anderen Wesen...
Nimmertiger lächelte. »Sie geniessen. Die Nacht, die Sterne, die Monde.«
Erst da erkannte Mile, von was der Rabenjunge sprach. »Du bist kein Rabe! Aber wie...?«
»Obsidian«, erklärte er.
Mile runzelte die Stirn. »Aber... wenn der Obsidian die Verwandlung verhindert, warum benutzt ihr ihn dann nicht immer?«
Nimmertiger machte ein grimmiges Gesicht. »Der Stein befreit uns nicht vom Fluch. Er unterdrückt nur die Verwandlung. Der Haken an der Sache ist, dass wenn ich den Obsidian wieder abziehe, dann bekomme ich die volle Ladung wieder ab. Die ganze Zeit, während ich den Stein trage, wird die Verwandlung angestaut. Das heisst, ich bleibe ohne Obsidian so lange Rabe, bis ich die hinausgezögerte Verwandlung kompensiert habe.«
»Aber was, wenn ihr die Obsidiane nie ausziehen würdet?«
Nimmertiger lachte freudlos. »Das würde bedeuten, vollkommen abhängig von einem Stein zu sein.«
»Aber warum hast du dich dann entschieden, den Obsidian zu tragen? Für die Schlacht?«
Der Rabenkönig nickte. »Für die Schlacht.«
Mile seufzte und setzte sich auf die Stufen, die zum Eingang des Inkoleums führten, dann begann er Nimmertiger alles zu erzählen, was im Zeitpalast geschehen war, liess nichts aus. Sein Cousin hörte ruhig zu, nur als er von Regenjäger sprach, reagierte er heftiger, wurde nervös, besorgt. Er hatte Angst um seine Familie.
»Nimmertiger, was tun wir jetzt? Die Rebellen haben verloren, die Herrscher sind gefallen, wir haben keine Chance!«
»Du hast von diesem Fluch gesprochen, den die Dunklen auf die Zivilbevölkerung gelegt haben«, hakte der junge König nach. »Was, wenn wir diesen Fluch brechen?«
Mile runzelte die Stirn. »Wie denn? Wir wissen nicht einmal, was es ist, nur dass er im Wasser steckt.« Er fluchte. »Scheisse, das Wasser! Wie viel sauberes haben wir noch?«
Nimmertiger zog die Nase kraus. »Frag lieber nicht, das reicht höchstens noch einen Tag, dann beginnen wir zu dehydrieren. Wir könnten versuchen, zur Basis im Ezelwald zurückzukehren...«
»Verdammt! Nein, das ist doch unmöglich!« Er blickte zu den Sternen auf. Tapfer strahlten sie der Dunkelheit zum Trotz. »Gibt es eine Alternative?«
»Unsere einzige Hoffnung bliebe der Regen.«
Mile schüttelte den Kopf. »Wir können nicht einfach nur auf den Regen setzen.«
»Was ist mit unseren Spionen, hat denn keiner irgendwas über diesen Fluch in Erfahrung bringen und dem Rat zukommen lassen können?«
»Nicht dass ich...« Er stockte, schluckte. »Doch, einen Spion haben wir...«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now