Der Jüngling in der Dunkelheit

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„Bleib in den Bergen", sagt die unbekannte Stimme. „Bleib, Taris."

Die Höhle zieht sich um ihn zu und will ihn ersticken, aber die gewisperten Worte sind zwischen ihm und dem Felsen und wenn er sich anstrengt, dann kann er noch atmen, ganz leise, ganz flach.

„Bis zum Ende der Welt, und dann zurück."

Das Feld um ihn herum ist leer und endlos und er ist allein, verloren, vergessen. Er spürt die Bedrohung überall, aber sehen kann er nichts und hören noch viel weniger, nur die flache Brise spüren, die das spärliche Gras niederdrückt und ihn mit dem Gefühl erfüllt, dass er laufen muss.

„Taris, bitte ..."

Er ist nicht mehr allein, überall um ihn herum sind Stimmen, sie brüllen und schreien und wimmern und lassen ihn keinen einzigen Moment in Ruhe und er hat keine Hände mehr, die er sich auf die Ohren pressen kann. Fremde Mächte lassen ihn tanzen bis sein eigener Wille gänzlich verloren ist.

„Du bist wie wir, Taris, du bist Vergessen."

Er kann sich nicht bewegen, ist eingesperrt in seinen eigenen Körper und das Monster kommt auf ihn zu. Gnadenlose Angst erfüllt ihn und will in seine Glieder fahren, aber dort ist nichts, was sie bewegen könnte und es schmerzt nur, hell und lodernd und das Monster kommt immer näher. Nicht einmal die Augen kann er schließen, er muss alles geschehen lassen wie ein Toter, dessen Seele nie geholt wurde.

„Taris, wach auf."

Und als er die Augen aufschlägt und den Prinz vor sich sieht, nur den Prinzen, da rinnen ihm Tränen der Erleichterung über die Wangen.

***

Der Prinz spricht nicht darüber, was geschehen ist und Taris fragt nicht. Was immer er für ihn getan hat, es war bereits zu viel, denkt er, denn wenn er aus der Höhle hinaussieht, in der er aufgewacht ist, dann liegt das Tal klein und weit unter ihnen und die nächste Bergspitze scheint nicht weit.

Die Wunde in seiner Seite ist nur notdürftig verbunden und ohne den Kräuterbrei, den Taris selbst hinzugefügt hätte, aber es ist schon erstaunlich genug, dass der Prinz noch genau weiß, wie er den Tee zu brauen hat, der gegen die Schmerzen hilft und ihn ruhiger schlafen lässt.

Der Winter ist schnell und hart über sie hereingebrochen und hält sie in der Höhle fest, aber es dauert ohnehin viel zu lange, bis Taris sich überhaupt nur bewegen kann, ohne dass ihn die Schmerzen fast bewusstlos machen.

Er bekommt nur am Rande mit, wie der Prinz geht und wiederkommt, immer mit irgendetwas auf dem Rücken, einer erlegten Bergziege oder gesammeltem Reisig oder kantigen Steinen, mit denen er den Eingang der Höhle verschließt.

„Ich sollte die Wunde auswaschen, nicht wahr?", fragt er flüsternd, als er sich zu Taris kniet und vorsichtig nach dem Stoff sieht, den er um seinen Unterleib gewickelt hat.

Das ist nicht Eure Aufgabe, will Taris sagen. Es wird schon wieder alles. Aber sein Anstand ist verloren in einem endlosen Schleier aus dumpfem, sturen Überlebensgeist und er sagt nur: „Ja, aber sei vorsichtig."

Er versteht nicht, warum der Prinz darüber so schmunzelt.

***

Die Landschaft vor der Höhle ist weiß und das Licht schmerzt in den Augen, wann immer Taris hinaussieht, und er hat keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, ob sie sich am Anfang, in der Mitte oder am Ende des Winters befinden. Hier oben in den Bergen ist der Schnee endlos und vielleicht ist es auch gar nicht Winter und sie sind nur so weit oben in den ewig weißen Spitzen, von denen die alten Abenteuerlieder immer erzählt haben.

Es ist ein seltsames Gefühl, das Taris nicht gefällt.

Der Prinz sorgt dafür, dass das Feuer nicht ausgeht und er kocht etwas, das wohl Suppe sein soll aus dem Fleisch der Ziegen, die er von draußen mitbringt, um es Taris einflößen zu können.

„Warum tut Ihr das?", fragt Taris ihn, nachdem es ihm heiß und sättigend den Magen gefüllt hat.

Der Prinz hebt nur die Augenbrauen, stellt die Schale zur Seite und macht sich an der anderen Seite des Feuers daran, sein Schwert zu schleifen.

„Mein Prinz?", hakt Taris nach, verwirrt, und er meint zu sehen, wie sich die Mundwinkel des Prinzen nach oben kringeln.

„Altair?", versucht er es noch einmal und jetzt sieht der Prinz auf und erwidert seinen Blick, fest und klar. „Warum tust du das für mich?"

„Weil du es für mich getan hättest", antwortet der Prinz ruhig. Taris fühlt eine andere Wärme als die der Suppe in seinem Inneren, die den Schmerz erträglicher macht. Er ist müde, wie fast immer in dieser Zeit und merkt, wie seine Augen darüber zufallen.

„Weil ich dich nicht verlieren kann, Taris", sagt die Stimme des Prinzen wie aus weiter Ferne in seinen schwindenden Sinnen.

Später kann er nicht sagen, ob nicht alles nur ein Traum gewesen ist, aber es fällt ihm dennoch immer schwerer, den Prinzen einen Prinzen zu nennen. 

Der Vergessene PrinzWhere stories live. Discover now