Kapitel 71 - Der Gewissenlose

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Im Zentrum von Tempus, da, wo der Zeitpalast stand, hier, an der tiefsten Stelle des Tals, dort war der Nebel am dichtesten. Die Häuser unter ihnen waren verschwunden, nur die Rauchschwaden, das Grau, das sich durch das Weiss zog wie Marmormuster aus Luft, zeugten von ihren brennenden Dächern. Ab und an flog ein flammendes Geschoss über sie hinweg, manchmal nur knapp am Bug oder den Segeln vorbei, dann konnte Sabrina die Hitze auf ihrer Haut spüren.
Wie die Welt um sie im Nebel verschwunden war, hatte sich eine seltsame Stille ausgebreitet. Nur wenn man die Luft anhielt, die Augen schloss und seine Ohren anstrengte, konnte man in weiter Ferne dumpf die Trommeln hören, die den Takt des Lieds von Blut und Stahl angaben.
Dass sie die Barriere durchbrochen hatten, wurde ihr erst bewusst, als sie schon auf der anderen Seite waren. Die Barriere hatte keine Farbe, keinen Klang, keinen Geruch und keinen Geschmack. Nur ganz kurz, bevor sie durch sie hindurchflogen, schien die Luft zu flackern. Auf einmal war die Luft weg, wie in einem Vakuum und schon war sie wieder da, zog als Wind an ihr und dann... waren sie durch.
Sie flogen weiter durch das Nebelmeer, das Schiff knarzte, das Nichts wollte scheinbar nicht enden. Erst als Sabrina sich schon fragte, ob sie überhaupt noch in die richtige Richtung flogen, schob sich der Zeitpalast aus dem Weiss und liess die Jolly Roger zum Staubkorn werden.
Die Türme des Palastes ragten aus dem Boden wie zwei lange Zähne, deren Spitzen sich in den Nebel verbissen. Das Schimmern der glatten Oberflächen wirkte stumpf, die Farben nur Pastell. Er war so gross, dass die einzelnen Ausläufe, die Erker und Zinnen, die Fenster und Spitzen vom Nebel geschluckt wurden wie die Formen weiter Landschaften.
»Wir brauchen mehr Auftrieb«, brummte Falk und zog das Sturmglas aus seiner Manteltasche. An den Steuermann gewandt befahl er: »Dreh etwas ab, wir fliegen zu tief.«
Der Steuermann nickte, drehte das Rad schwungvoll nach Backbord und das Schiff legte sich sanft in eine Schieflage. Ein starker Wind traf auf den Bauch des Schiffs, hob es hoch, drückte gegen das Heck, blähte die Segel und liess die Jolly Roger mit doppelter Geschwindigkeit vorschnellen. Sie gewannen rasch an Höhe, schraubten sich am linken der Türme hoch.
Endlich hatten sie die Brücke, die die Türme des Palasts miteinander verband, erreicht und die Jolly Roger blieb wenige Meter über ihr in der Luft stehen.
Falk drückte Smee, der neben ihnen stand, sein Sturmglas in die Hand. »Hör her, alter Freund. Wage es nicht, umzukommen. Und solltest du es schaffen, dass mein Schiff am Stück bleibt, wäre ich dir auch sehr dankbar...«
Smee grinste ein Goldzahnlächeln, zog die Nase hoch und brummte: »Aye aye, Captain!«
Sabrina öffnete ihr Säckchen und eine feine, goldene Staubwolke quoll daraus hervor. Feenstaub.
Die Feen, die sie damals von Falks altem Piratenschiff gerettet hatte, waren ihr etwas schuldig gewesen. Das hatten sie nun mit dem goldenen Wunderzeug beglichen.
Die Xilsar funktionierten wie ein Uhrwerk. Sie stellten sich in Reihen hinter Red, Mile und ihr selbst auf, erhielten ihre Dosis, stiegen über die Reling und liessen sich auf die Brücke schweben. Neben den Kriegen hatten sich auch drei Hellelfen bereiterklärt, sie auf das Selbstmordkommando zu begleiten. Sie hatten sich Sabrina zuvor als Jian, Asa und Valyn vorgestellt. Die Chance, dass sie sich diese Namen behalten können würde, war zwar relativ gering, aber wer wollte es ihr heute verübeln?
Falk war der letzte, der sich seine Portion bei ihr abholte. Er wartete, bis sie sich ihre eigene Priese über den Kopf gestreut und den Beutel wieder an ihrem Gürtel befestigt hatte. Während sie gemeinsam auf die Reling stiegen, fragte er: »Bist du bereit?«
»Nein«, antwortete sie nüchtern. »Du?«
»Aye.«, meinte er und machte ein Gesicht, wie sie es noch nie an ihm Gesehen hatte. Sein Ozean war schwarz wie der des Tintenmeers, auf dem sie sich damals zum ersten Mal getroffen hatten. Dieser Blick, aus dem sie seine Entschlossenheit las, färbte auf sie ab. Sie straffte die Schultern und nahm ihn bei der Hand. »Du hast recht, ich bin es auch. «
Sie schloss die Augen, wie es eine der Anweisungen der Feen gewesen war. Augen schliessen, ans Fliegen denken, ans Fliegen glauben.
Sie stellte sich vor, wie ihre Füsse sich von dem Holz lösten, ihr Körper der Schwerkraft trotzen und sie sicher auf der Brücke landen würde. Schon spürte sie, wie ihre Gedanken zur Realität wurden. Sie flog...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt