Kapitel 70 - Als niemand schlief

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~Sabrina~

»Es ist so weit«, meinte Falk und deutete auf die Spitze des Hauptmasts, wo die Jolly Roger – die Piratenflagge, nach der das Schiff benannt war – träge flatterte. Einst hatte auf ihr ein klassischer Schädel mit gekreuzten Knochen geprangt, von denen einer in einem Haken geendet hatte. Doch heute war Falk kein gewöhnlicher Pirat mehr. Heute war er der Pirat der Herrscher und so ersetzte ein Rabenschädel den des Menschen.
Das erste Licht der Morgensonne färbte das schwarz milchig golden. Das war ihr Zeichen...
Mit ein paar langen Schritten stand Falk auch schon auf dem Poopdeck und schlug mit dem Haken gegen die dort angebrachte Glocke. Das grelle Leuten liess alle an Deck erscheinen. Keiner von ihnen, weder die Matrosen noch die Xilsar selbst, sahen aus, als hätten sie ein Auge zu gemacht.
Niemand schlief.
Jeder der Xilsar trug eine Rüstung, die extra für diese Schlacht im Namen Drosselbarts in Auftrag gegeben worden war. Man hatte dabei selbst Wünsche und Vorschläge anbringen können.
Jeremy Toppers Mantel war durch eine extravagante Brigantine ersetzt worden. Extravagant, denn sie war mit Schärpen, Lederriemen, Knöpfen, Stickereien und Bändern verziert - die musste er nachträglich selbst angebracht haben. Natürlich durfte auch seine Fliege nicht fehlen, die er am Hemdkragen, der über den Kragen der Brigantine ragte, gebunden hatte. Und auch jetzt liess es sich der Hutmacher nicht nehmen, seinen Zylinder zu tragen, den er jedoch, um ihn nicht zu verlieren, mit einem Lederband samt Schnalle um sein Kinn befestigt hatte. Besonders war auch, dass er Gladito und Clytia, das Schwert und den Schild der Hüter, die er sonst immer als Nadeln getarnt an seinen Hut steckte, als Waffen führte.
Peter Pan schwebte in einem dunkelgrünen Gambeson, das ihm um etwa drei Grössen zu weit war, über dem Deck. Seine Waffe war wie immer sein Dolch, doch Sabrina entdeckte an seinem Gürtel eine Schleuder und einen Entenfuss stecken. Letzteres musste Peter aus dem Arsenal seines Bruders geklaut haben.
Sogar Faritales hatte eine Rüstung, die er aber nicht von Drosselbart, sondern von Sabrina geschenkt bekommen hatte. Der Dämon hatte ihr diesen Morgen seine Unterstützung im in der Schlacht angeboten und sie hatte dankend angenommen. Eigentlich wollte sie ihn nicht gefährden, aber einen guten Freund an seiner Seite zu haben, konnte nie schaden. Ausserdem hätte er sich sowieso nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. Nun steckte er in einer kleinen Lederrüstung, die seinen Rumpf und die Extremitäten schützten. Stolz führte er ein Messer, das bei seiner Grösse zur Machete wurde.
Sogar die Rabenbrüder trugen ausnahmsweise mehr, als eine Hose. Für die Schlacht hatten sie sich alle Kettenhemden und Lederrüstungen fertigen lassen. Stolz führten sie ihre Streitäxte, Pistolen, Schwerter und Armbrüste. Nur Nebelfinger hatte sich - bescheiden wie immer - für eine Kriegssense und einen Schild entschieden. Nicht die Waffen eines grossen Heroen, eher die eines Bauern, doch es war eine weise Wahl. Nebelfinger war nicht sonderlich gross oder stark, mit der Kriegssense konnte er seinen Feind auf Abstand halten.
Ausnahmsweise war Red nicht in ihren Umhang gehüllt. Stattdessen steckte sie in einem bordeauxroten Gambeson, einer schwarzen Lederhose, links steckte ihre Schulter samt Arm in einer Metallrüstung. Auch Oberschenkel und Schienbeine waren gerüstet. Ihre rechte Seite wurde mit einem Rundschild geschützt.
Falk hatte sich nicht von ihr überreden lassen, auch eine Rüstung zu tragen. Er hatte auf seine gewohnte Montur bestanden, er habe schliesslich schon tausend Seeschlachten geschlagen und alle überlebt. Der Kapitän der Jolly Roger würde also in gewohnter Piratenausrüstung in die Schlacht ziehen.
Wenigstens war Mile schlau genug gewesen, an seiner Rüstung herumschrauben zu lassen. Er hatte die Rüstung ihres Vaters geerbt, die vielleicht in Turnieren, aber nicht für die Schlacht zu gebrauchen war. Viel zu schwer und klobig war sie gewesen. Nun hatte er sie komplett auseinander genommen. Ein massgeschmiedetes Kettenhemd mit Lederverstärkung hatte die Plätze von Harnisch und Rückenpanzer eingenommen. Nur der Plattenkragen und die Schulterpanzer hatte er behalten. Der Harnisch war hinten und vorne zu einer Brust-und Rückenplatte gekürzt worden. Die Beintaschen, die zuvor aus sperrigen Platten zum Schutz seiner Oberschenkel bestanden hatten, waren nun zu mehreren kleineren Plättchen verarbeitet und dann mit Metallringchen aneinandergehängt worden. An den Schienbeinen trug er ebenfalls Schienen. Der Rest bestand aus Leder und Stoff. Wie immer trug er Kayat an seiner Seite. Einen Schild oder eine weitere Waffe entdeckte sie an ihm nicht.
Falk musste keine Ansprache halten, keine Befehle erteilen – die Mannschaft wusste genau, was zu tun war. Die Segel wurden gesetzt, der Anker eingeholt, Männer schwangen sich in die Takelage, viele rannten unter Deck, um die Kanonen zu laden, alles jagte über das Deck und trotz des Trubels war da kein Laut zu hören. Die sonst so lebhaften Seeleute schwiegen, man hörte einzig ihre Schritte über die Planken jagen und die Dielen knarren.
Es knirschte, knarrte, das Schiff hob sich vom Grund, immer höher, über die Wipfel der Bäume, bis der Wald zu einer weiten, grünen Fläche wurde und das Tal der Ewigkeit sich vor ihnen ausbreitete und immer mehr schrumpfte, bis es die Grösse einer Goldmünze hatte. Es wurde kälter und kälter und die Luft wurde so dünn, dass Sabrina merkte, wie sie tiefer Luft holen musste, um ihren Sauerstoffbedarf zu decken. Doch das störte sie gar nicht, denn etwas anderes zog all ihre Aufmerksamkeit auf sich: Twos konnte so wunderschön sein...
Die Bäume schwammen im Nebelmeer, das der Morgen golden färbte. Wo das Tal der Ewigkeit begann, rollte der Nebel wie ein Wasserfall in die Tiefe. Gerademal die Spitzen der Wachtürme und natürlich des Zeitpalasts ragten heraus. Ein einzelner Drache schwang sich gerade aus dem Nebel und setzte sich auf eines der Dächer, um seine Flügel zu putzen. Alles andere versank im Nebelmeer.
»Die dürfen wir nicht vergessen«, brummte es hinter ihr und sie drehte sich um. Jeremy stand vor ihr, machte ein ernstes Gesicht und hielt ihr die Faust hin, wie um ihr etwas zu geben. Sie hielt ihm die hohle Hand hin, in die er sein Gut fallen liess.
»Der Mohn«, hauchte sie, und betrachtete die zierliche Blüte in ihrer Hand. Sie war noch genauso schön, wie an dem Tag, als Medusa sie gepflückt hatte. »Haben die Elfen sie verzaubert? Sie ist nicht welk...«
Der Hutmacher lächelte, wenn auch etwas angespannt. »Diese Pflanze hat die Gabe, Magie abzuschirmen, sie zu verstecken. Sie kann nicht verzaubert werden.«
»Wie kann sie dann noch so schön sein?«, fragte Sabrina und fühlte vorsichtig eines der blauen Blütenblätter zwischen ihren Fingern.
»Sie braucht keine Magie, die sie erhält, das macht sie ganz von alleine.« Er hielt inne und widmete sich einen Moment der Betrachtung des blauen Mohns. »Ich liebe Mohn«, erklärte er auf einmal. »Diese Blume ist so zart, so leicht zu zerstören und doch leuchten ihre Farben intensiver, als die alle anderen Blumen. Egal ob rot oder blau.« Er hob den Blick. »Trage sie nah an der Haut, in der Nähe des Herzens wenn wir durch die Barriere fliegen.«
»Okay. Danke, Hutmacher.«
Jeremy Topper nickte, lächelte wohlwollend und machte sich zum nächsten magiebehafteten Wesen auf.
Ohne lange nachzudenken, verstaute Sabrina die Blume in ihrem Dekolleté. Nahe an Haut und Herz. Dabei streiften ihre Finger den Mondsteinschlüssel, den sie sich mit einem Lederband um den Hals gebunden hatte. Automatisch wanderte ihr Blick zu Falk, ihrem zweiten Schlüssel. Als hätte er ihre Augen auf sich ruhen gespürt, drehte er den Kopf, sah zu ihr herab und winkte ihr zu. Er wirkte so entspannt, es war zum verrückt werden. Sie wünschte sich seine Gelassenheit, doch daraus würde nichts werden. Sie war schrecklich aufgeregt. Wann immer sie an die Schlacht dachte – das bedeutete die ganze Zeit – begann ihr Bauch Harakiri. Sie wartete nur darauf, dass es schlimmer werden und sie sich über die Reling erbrechen musste.
»Beruhig dich, beruhig dich«, ermahnte sie sich selbst und versuchte, tief einzuatmen, sich zu entspannen und an gar nichts zu denken.
Unter ihnen knackte es. Sofort das schlimmste erwartend, beugte sie sich über die Reling und sah, wie ein riesiges Wesen die Bäume um sich herum knickte, als wären es Grashalme, und sich in die Luft schwang. Das Ungetüm war so weiss wie der Nebel um es herum und nicht weniger schön. Es handelte sich um den Drachen Hydra, die Drachendame Ikarus'. Mit wenigen Flügelschlägen hatte der Drache sich in die Höhe gehoben und stieg zu ihnen auf, bis sein riesiger Kopf neben dem Schiff schwebte. Auf seinem Hals hatten sich mehrere Wolkenvölkler niedergelassen, die ihr zuwinkten, sobald sie sie erkannten. Sabrina winkte zurück.
Ikarus, der auf der Stirn Hydras sass, erhob sich, breitete die Schwingen aus und segelte zu Falk auf das Poopdeck.
Sabrina, die das nicht verpassen wollte, gesellte sich eilig zu ihnen. Mile tat es ihr gleich.
»... wie geplant. Wir warten, bis sie die ersten Katapulte abgeschossen haben, dann warten wir eine Weile und dann fliegen wir los.«, erklärte der Prinz des Wolkenvolks gerade, als sie das Deck erreichten.
Falk nickte. »Okay. Wie soll ich das Schiff fliegen. Werdet Ihr euch neben, über oder unter uns befinden?«
Ikarus streckte sich und brummte: »Hmm, ich würde sagen über uns. Das ist im Falle eines Angriffs eines gegnerischen Drachens zwar gefährlicher, dafür wird das Schiff nicht auf den ersten Blick erkennbar sein.«
»Aye! Wie lange wird es dauern, bis...«
Ein Krachen hallte durch den Morgen. Alle eilten zur Reling, um zu sehen, was passiert war. Rauch stieg von Tempus auf. Schon flog das nächste brennende Wurfgeschoss, von hier oben so klein wie eine Fruchtfliege, auf die Hauptstadt des Landes zu.
»Das erklärt wohl, was...«
Auf einmal flogen sie aus allen Richtungen. Feuerbälle, Steingeschosse. Wo sie einschlugen, verbarg der Nebel, doch hören konnten sie es alle. Das Krachen, die Explosionen, die Löcher in die Stadt rissen.
Tempus war keine Stadt, die dafür gebaut war, Belagerungen, Kriege und Schlachten zu überstehen. Das war nicht der Sinn ihrer Erbauung gewesen. Hier hatte Frieden herrschen sollen.
Natürlich hiess das nicht, dass Tempus sich nicht verteidigen konnte. Schon fogen die ersten Geschosse zurück.
»Also, dann macht es gut, meine Freunde«, verkündete Ikarus und nickte ihnen zu. Sein Übermut war gedämpft. »Bellumbra moéasur, marsia kas zanoyè.«
Mile nickte. »Ihr auch!«
Der Engel breitete die Schwingen aus und sprang mit einem Satz über die Reling.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now