Kapitel 6

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Ich versuchte die vielen schulfreien Wochen über, Juliana aus meinen Gedanken zu verbannen. Doch immer, wenn ich es geschafft hatte, tagsüber nicht an sie zu denken, dann schlich sie sich nachts in meine Träume und brachte mir so die schmerzhaften Gefühle und Erinnerungen an sie zurück.
So ein Gefühlschaos hatte ich noch nie in meinem ganzen Leben verspürt. Es war unglaublich, dass man dermaßen Widersprüchliches zur selben Zeit empfinden konnte – denn bis vor Kurzem hatte ich dem ja noch kritisch gegenüber gestanden, weil ich es nicht hatte glauben wollen, dass man glücklich und unglücklich zur selben Zeit sein konnte, so wie es viele Protagonisten in diversen Romanen waren. Jetzt aber hatte ich am eigenen Leib erfahren, dass es tatsächlich möglich war – und wünschte, es nicht zu können.
Mein Herz und mein Verstand arbeiteten so stark gegeneinander wie noch nie. Mein Verstand schrie immer wieder, ich solle endlich aufhören, an Juliana zu denken und schickte mir zusätzlich noch einen Stich in meine Brust. Aber mein Herz sagte mir, dass ich nicht aufgeben dürfe, weil Juliana wirklich eine ganz besondere Frau war und es sich lohnen würde, um sie zu kämpfen. Um dies zu unterstreichen, ließ es mich jedes Mal, wenn ich Juliana vor meinem inneren Augen lächeln sah, auf Wolke sieben schweben.
Grauenvoll, einfach nur grauenvoll, dieses Durcheinander! Ich wusste nicht, was ich tun sollte: Auf meinen Verstand oder auf mein Herz hören. Zwischen einem von beiden musste ich mich entscheiden, doch die Wahl fiel mir so schwer, dass ich sie wie einen bleiernen, tonnenschweren Klotz vor mir herschob. Tagelang plagte ich mich damit herum, während ich meinen Mitschülern half, den Abschlussball meiner Jahrgangsstufe zu organisieren. Das lenkte mich zwar etwas ab, doch sobald ich nichts zu tun hatte, fing ich wieder an zu grübeln.
Emma berichtete mir eines Abends am Telefon, dass sie mit ihrem Tanzpartner von der Schulfeier zusammengekommen war. Er hieß Tim, war siebzehn und war der jüngere Bruder von Simon, einem Mitschüler von uns. Es tat auch mir gut, Emma so glücklich zu wissen. Wenigstens eine von uns hatte ihren Liebeskummer überwunden.
Am Tag des Abschlussballs kam meine beste Freundin vormittags zu mir, um mir dabei zu helfen, mich schön zu machen, weil ich aufgrund meiner Ungeschicklichkeit in handwerklichen Dingen dazu nicht in der Lage war. Sie flocht mir meine Haare, ließ aber einige Strähnen heraushängen, und schminkte mich dezent, aber dafür passend zu meinem fliederfarbenen Kleid.
»Was ist eigentlich los mit dir, Kate?«, fragte sie, als sie gerade meine Haare kämmte. »Du bist zur Zeit immer so abwesend.«
»Ach, Emma, ich will dir deinen Tag nicht vermiesen«, seufzte ich. Das war nicht einmal gelogen. Ich wollte ihre Freude nicht wegblasen, weil sie zur Zeit so glücklich war und ich ihr dieses Glück von ganzem Herzen gönnte. Da wollte ich nicht mit meinen Problemen bei ihr antanzen.
»Das kannst du gar nicht«, entgegnete Emma und begann, meine Haare zu flechten. »Aber lass mich raten ... du bist unglücklich verliebt?«
Ich nickte zaghaft, brachte es aber nicht übers Herz, Emma durch den Spiegel vor mir anzusehen. Es war mir immer noch peinlich, jemandem mitzuteilen, dass ich eine Frau liebte, weil es leider nicht als normal angesehen wurde, das gleiche Geschlecht zu lieben. Zudem handelte es sich um eine Lehrerin. Doch ich fand, dass meine Freundin ein Recht darauf hatte, zu erfahren, was mit mir los war. Immerhin teilte sie mir auch alles mit, was sie bedrückte.
»Willst du mir verraten, wer dir solches Kopfzerbrechen bereitet?«, fragte sie nach einer Weile des Schweigens. Dann zupfte sie an meinen Haaren herum, bis sie ihrer Meinung nach perfekt saßen. Offenbar hatte sie den Kuss damals auf dem Fest nicht mitbekommen.
»Du darfst mich aber nicht für verrückt erklären«, jammerte ich und hielt nur mit Mühe die Tränen zurück. Emma erwiderte, dass sie mich niemals für verrückt erklären würde, und so erzählte ich ihr die ganze Geschichte von dem Tag an, als wir beide Juliana Gratus kennen gelernt hatten,
Um kurz vor fünf waren wir beide fertig – Emma mit Schminken und ich mit Erzählen. Während meiner Schilderung hatte Emma mir des Öfteren die Wimperntusche neu auftragen müssen, weil meine Tränen sie immer wieder verschmiert hatten. Doch jetzt sah ich wieder frisch aus und fühlte mich auch viel besser, weil mir eine große Last genommen worden war.
»Du hast dir wirklich eine hübsche Frau ausgesucht, Kate«, schmunzelte Emma, als wir gemeinsam zu der Halle fuhren, in der unser Abschlussfest stattfinden sollte. Genau das liebte ich so an Emma – dass sie nicht urteilte. Sie sagte mir nicht, was sie für richtig hielt, sondern überließ die Entscheidung ganz und gar mir. So übte sie nämlich keinen Druck auf mich aus, der es mir nur noch schwerer gemacht hätte, mich zu entscheiden.
Zerknirscht blickte ich aus dem Fenster von Emmas kleinem Auto. Es war ein trüber, wolkenverhangener Abend, doch da unser Fest nicht draußen stattfinden sollte, konnte es uns egal sein. Jedoch spiegelte das Wetter meine Stimmung wieder. Ich fühlte mich nicht schlecht, aber auch nicht gut. In mir hatte sich eine merkwürdige Leere ausgebreitet, als könnte mir nichts und niemand mehr etwas anhaben. Als könnte ich nichts mehr fühlen außer Gleichgültigkeit. Seit ich versuchte, meine Liebe zu Juliana aufzugeben, hatte mich dieses Gefühl des Öfteren heimgesucht. Ich wusste einfach nicht, ob mein Verstand oder mein Herz nun recht hatte und auf wen ich hören sollte. Die Leere war das Ergebnis der noch nicht getroffenen Entscheidung.
»Hey, Kate, weißt du, dass Tim kommt?«
Emma holte mich aus meinen Gedanken in die Realität zurück. Sie suchte gerade einen Parkplatz vor der Halle, in der unsere Feier stattfinden sollte.
»Ich bin froh, dass du glücklich bist«, sagte ich, doch es klang nicht so. Meine Stimme war kalt wie das Glas der Autoscheibe, gegen die ich gerade meine Stirn presste.
»Alles in Ordnung?«, fragte Emma leise, doch ich antwortete nicht.
Gemeinsam gingen wir in die riesige Halle, in der wir am Vortag viele Tische und Stühle aufgestellt hatten. Festliche Dekoration hing an den Wänden und Blumengestecke schmückten die Tische, an denen schon einige Gäste saßen. Meine Eltern hatte ich nicht eingeladen, sie wären sowieso nicht gekommen. Ich saß bei Tim, Emma und ihrem Vater mit am Tisch. Wir unterhielten uns, doch sowohl Tim als auch Herr Kreuz bemerkten schnell, dass ich nicht in der Stimmung zum Plaudern war. Also ließen sie mich meistens in Ruhe, was mir sehr recht war.
Die Zeugnisse wurden ausgegeben, und alles, was danach folgte, rauschte an mir vorbei wie ein Schnellzug. Man sieht ihn kommen, dann nimmt man ihn für wenige Augenblicke wahr und schon verschwindet er wieder in der Ferne, als wäre er nie da gewesen. So ähnlich ging es mir an diesem Abend. Ich starrte mein Zeugnis auf dem Tisch an und wünschte mir, ich hätte schon meine neue Wohnung bezogen und würde dort gemütlich mit einem Buch auf dem Sofa lümmeln und lesen. Stattdessen saß ich hier im Dunkeln, während auf der Bühne gerade ein kleiner Sketch aufgeführt wurde. Viele Gäste lachten sich die Seelen aus dem Leib, während ich dasaß wie eine Statue und mich nicht regte. Es hätte eine Bombe hinter mir hochgehen können, ich hätte sicherlich nicht einmal mit der Wimper gezuckt.
Und dann, als die Lichter wieder angingen, hörte ich plötzlich Schritte. Es war eines der wenigen Geräusche, das ich unter tausend anderen sofort wiedererkannt hätte. Die Schritte gehörten nicht irgendwem. Sie gehörten ihr. Nur ihre Füße erzeugten diesen unverkennbaren, leicht glockenhaften Ton, der mich schon am Tag unserer ersten Begegnung hatten aufhorchen lassen. Egal, was für Schuhe sie trug, der Klang ihres Ganges war unverkennbar. Zumindest für mich.
Doch ich hielt den Blick gesenkt, als die immer lauter werdenden Schritte plötzlich nicht mehr zu hören waren. Ich wusste, dass sie neben mir stand, spürte ihre Anwesenheit, aber ich konnte sie nicht ansehen. In mir schrie es, ich solle ja standhalten und nicht nachgeben, aber mein Herz verlangte, dass ich sie ansah, damit ich ihre wunderschönen Züge sehen konnte.
»Hallo, Kate«, hörte ich Juliana sagen, und ich schloss kurz die Augen, weil der Klang ihrer Stimme so wunderschön war wie der Gesang der Nachtigall, die ich von meinem Zimmer aus immer hören konnte. Die Nachtigall sang immer ein bestimmtes Lied, das ich auswendig nachsummen konnte, und es klang immer so hell und klar, dass ich dem Vogel stundenlang zuhören könnte.
»Hast du Lust, mit an meinen Tisch zu kommen? Ich würde gerne ein wenig mit dir reden«, sagte Juliana, und ich seufzte. Jetzt musste ich eine Entscheidung treffen. Doch bevor mein Verstand zum Zug kommen konnte, war ich auch schon aufgesprungen. Der Stuhl kippte krachend um, und für ein paar Herzschläge ruhten die Blicke der anderen Leute auf mir. Doch ich hatte nur Augen für Juliana, die ich mich jetzt endlich anzusehen getraute. Und dieser Anblick überwältigte mich beinahe.
Im Licht der Deckenlampen leuchteten ihre roten Haare beinahe wie Feuer, und ich spürte, wie die Leidenschaft in meinem Herzen aufflammte. Ich verspürte den heftigen Drang, sie zu umarmen und sie zu küssen, ihre Wärme zu genießen und mich geborgen zu fühlen. Das tiefe Schwarz ihrer Wimpern stand in dramatischem Kontrast zu der rosigen Farbe auf ihren Wangen. Und ihre Augen waren so gütig, so freundlich wie noch nie. Ich drohte dahinzuschmelzen.
Doch was mich in diesem Moment am meisten an ihr beeindruckte, war ihr Kleid.
Es war, als stünde Juliana in Flammen. Das erdbeerrote Kleid war trägerlos und von hinten hingen rote, aber durchsichtige Stoffbänder um ihre Oberarme herum und fielen dann an ihren Ellbogen nach unten. Der untere Teil des Kleides war weit und hinten länger als vorne. Und wenn sich Juliana in ihrem Kleid bewegte, dann glitzerte es an einigen Stellen und verlieh ihr so den Feuercharakter, der mir sofort aufgefallen war.
Ich war unfähig, auch nur ein einziges Wort herauszubringen.
»Na los, Kate«, forderte Emma mich auf und holte mich so in die Wirklichkeit zurück. Juliana sah mich bittend an, und ich beschloss, heute nur noch auf mein Herz zu hören, weil ich es satt hatte, in dem ewigen Zwist von Herz und Verstand gefangen zu sein.
Kaum waren wir an Julianas Tisch angekommen, trat Martina, ein Mädchen aus meiner Stufe, auf die Bühne und krächzte mit ihrer nervigen Stimme ins Mikrofon: »Jetzt möchten wir alle anwesenden Lehrer bitten, sich mit ihrem Tanzpartner auf der Bühne einzufinden, um zu tanzen. Der erste Tanz gehört den Lehrern, danach können sich die anderen Gäste zum Tanzen einfinden.«
»Hast du Lust zu tanzen?«, fragte Juliana, und sofort fühlte ich mich an den Abend vor vielen Wochen zurückversetzt.
Nein, nein, nein – nicht tanzen! Bitte nicht tanzen. Das war das Letzte, was ich in diesem Moment wollte. Es brachte nur die schmerzliche Erinnerung an die letzte Schulfeier zurück, und ich versuchte vergeblich, sie in die Untiefen meines Gedächtnisses zurückzudrängen. Mein Auftritt war peinlich gewesen, sehr peinlich. Das wollte ich nicht wiederholen. Außerdem tat der Stich in meinem Herzen weh, doch Juliana hatte gesagt, dass ihr Herr Sauer nichts bedeutete, und das glaubte ich ihr. Warum also sollte ich eifersüchtig sein?
»Nein«, antwortete ich, doch das ließ sie nicht als Antwort gelten, sondern nahm meine Hand und zog mich mit zur Bühne. Diesmal protestierte ich und wand mich aus ihrem Griff. Sie sah mich verletzt an, und sofort fühlte ich mich schlecht. Ich wollte ihr nicht weh tun, aber gegen meinen Willen konnte sie mich nicht zwingen zu tanzen.
»Geh schon!«, hörte ich Emma hinter mir zischen. Ich drehte mich um und sah erstaunt, dass meine Freundin hinter mir stand. Ich hatte sie gar nicht kommen hören.
»Ich will nicht!«, raunte ich zurück, doch Emma gab mir einen leichten Schubs und lachte leise. »Manchmal muss man dich zu deinem Glück zwingen!«, grinste sie, als Juliana erneut meine Hand ergriff und ich mich diesmal mit auf die Bühne nehmen ließ.
Die Bühne war riesig und es waren nicht sehr viele Lehrkräfte anwesend, deswegen konnten wir hier oben gut tanzen. Es lief ein sehr schönes Lied, das zu meinen Lieblingsliedern zählte, und deswegen fiel es mir umso leichter, mit Juliana zu tanzen, die mich anstrahlte, als wäre sie die Sonne persönlich. Die Lichtreflexe der Scheinwerfer in ihrem Haar und auf ihrem Kleid waren atemberaubend, ich konnte kaum den Blick von ihr abwenden. Sie bemerkte das und lachte leise, dann wirbelte sie mich im Kreis herum und beinahe hätten wir meinen ehemaligen Kunstlehrer und seine Frau angerempelt, doch das störte mich nicht. Juliana lachte nur erneut und zog mich dann eng an sich. Wieder drohte mir die Luft wegzubleiben, so wie bei unserem letzten Tanz, doch ich zwang mich zu atmen, weil ich mir eine Blamage auf dieser Bühne ersparen wollte.
Die Musik hätte nie enden sollen. wäre es nach mir gegangen, denn Ich fühlte mich so fröhlich wie schon lange nicht mehr, während ich mit Juliana über die Tanzfläche schwebte. Doch dann verklang die Melodie und wir stoppten langsam in der Mitte der Bühne. Als alle Tanzenden zum Stehen gekommen waren, herrschte für zwei Herzschläge Stille im Raum, bevor der Applaus folgte. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin auf einem königlichen Ball, die soeben mit dem Prinzen ihrer Träume getanzt hatte. Nur dass der Prinz in meinem Fall eine Prinzessin war.
Martina war gerade wieder auf dem Weg zur Bühne, wohl um die übrigen Gäste, die tanzen wollten, hinauf und auf die große freie Fläche davor zu bitten. Die Lehrer, die nicht mehr tanzen wollten, machten Platz und verschwanden aus dem Rampenlicht. Als ich mich Juliana zuwandte, bemerkte ich, dass wir uns noch immer an den Händen hielten. Und meine Tanzpartnerin machte nicht den Eindruck, als wollte sie das ändern. Sie drückte meine Hand sogar ganz leicht und lächelte mich dann an. Ich lächelte glücklich zurück.
»Willst du noch einmal tanzen?«, fragte ich Juliana. Zu meiner Überraschung schüttelte sie den Kopf.
»Nein«, sagte sie bestimmt. »Ich will etwas anderes.«
Bevor ich darüber nachdenken konnte, was sie wohl meinen könnte, hatte sie sich ganz dicht vor mich gestellt und ihr Gesicht war wenige Zentimeter von meinem entfernt. Mein Herz fing an zu rasen und ich hoffte inständig, dass es nicht aus meiner Brust sprang. Das tat es zum Glück nicht, aber es stellte wohl einen neuen Weltrekord an Schlägen pro Minute auf. Denn Juliana beugte sich noch näher zu mir und legte sanft ihre Lippen auf meine.

Rot wie die LiebeWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu