Nili

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Nili blickte im Rennen über ihre Schulter. Kiesel kam gerade um eine Ecke gebogen und setzte ihr nach. Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde davonzulaufen, denn er war um einiges schneller als sie. Nur, wenn sie irgendwo einen Spalt oder eine offene Tür fand, hatte sie eine Chance. Sie rannte die Gasse hinunter, vorbei an Einfahrten und Gartenzäunen. Die nächste Kreuzung nahte. Sie bog nach links, wobei sie auf der regennassen Straße beinahe ausgerutscht wäre, und sah sich nach einem geeigneten Versteck um. Aber hier reihte sich Hauswand an Hauswand. Es sah schlecht für sie aus. Wütend zwang sie sich, weiter zu laufen. Ihre Lungen brannten und ihr Herz raste. Plötzlich entdeckte sie einen schmalen Durchgang. Ihre Rettung! Ohne sich umzusehen, huschte sie in den Spalt. Sofort legten sich klebrige Spinnenweben über ihr Gesicht, welche sie angeekelt wegwischte, so gut es ging. Doch es war zwecklos. Sie versuchte, ihren Atem etwas zu beruhigen und sah sich um. Die fensterlosen Fassaden wuchsen über ihrem Kopf empor. Sie hielten zwar den Regen ab, dafür trafen Nili dicke, eiskalte Tropfen, die vom Dach des Hauses fielen. Als ihre Augen sich wenige Sekunden später an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah sie, dass der Spalt nach wenigen Metern endete. Eine Sackgasse.

»Verdammt.« Sie drehte sich in Richtung Ausgang. War da das Geräusch von schnell näher kommenden Schritten, oder täuschte sie sich? Weit konnte Kiesel nicht mehr sein. Nili presste sich an die Hauswand und hoffte, er würde einfach vorbei laufen. Gespannt starrte sie auf den Lichtspalt zwischen den beiden dunklen Fassaden. Ein Schemen huschte vorbei. Erleichtert atmete Nili auf. Er hatte sie nicht gesehen. Vorsichtig schlich sie auf den Spalt zu. Als sie ihn fast erreicht hatte, tauchte Kiesels Silhouette direkt vor ihr auf. Der Iro, den er sonst kerzengerade auf dem Kopf trug, hing auf eine Seite, wie der schiefe Turm von Pisa.

»Da bist du ja, meine Kleine.« Er war etwas außer Atem, aber nicht so sehr, wie Nili.

Sie starrte ihn grimmig an, doch sie wusste, dass sie verloren hatte. Es waren diese Tage, an denen sie das Leben auf der Straße hasste. Und doch gab es kein Zurück. Alles war besser, als die täglichen Prügel ihres Vaters und die leeren, teilnahmslosen Augen ihrer Mutter.

»Komm, gib das Geld her, dann lasse ich dich in Ruhe.«

»Ich habe heute selber kaum was bekommen.« Das stimmte zwar, aber Kiesel besaß garantiert noch weniger. An Regentagen war die Fußgängerzone in der Innenstadt meist leer. Wenn doch mal ein Passant ein paar Münzen springen ließ, dann meistens für das kleine, frierende Mädchen, das am Straßenrand saß.

»Aber mit Sicherheit mehr, als ein Punk wie ich.« Er kam zwei Schritte auf sie zu. »Jetzt rück schon raus.«

Widerwillig steckte Nili ihre Hände in die Hosentaschen und zog die Münzen heraus, die sie den Tag über gesammelt hatte.

Kiesel hielt die Hand auf, damit sie das Geld hineinlegen konnte.

»Dreh die Taschen um.«

Nili zog den Stoff nach außen, so dass Kiesel sehen konnte, dass sich nichts mehr darin befand.

»Vielen Dank. Es freut mich immer wieder, mit dir Geschäfte zu machen.«

Nili sagte nichts, starrte ihn nur weiter böse an.

Kiesel drehte sich um und war wenige Sekunden später aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie stützte sich mit den Händen auf ihren Knien ab. Das stundenlange Betteln und die Flucht vor Kiesel waren umsonst gewesen. Dann griff sie in ihren linken Schuh und tastete ein wenig, bis ihre Finger auf zwei Münzen stießen. Das Geld war noch da. Anschließend lockerte sie ihre Haare, die sie mit mehreren Gummis zu einem Zopf gebunden hatte. Klirrend fielen zwei weitere Geldstücke zu Boden. Sie hob sie auf und betrachtete sie. Immerhin, vier Euro waren übrig geblieben. Genug für eine Packung Kakao und ein belegtes Brötchen.

Nilis neue Welten - LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt