Verzweiflung

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Indem ich mein Handy aus meiner Hosentasche zog, unterbrach ich meine teils wütenden, teils besorgten Gedanken und konzentrierte mich auf die Uhrzeit. 11:50 Uhr. In etwa 15 Minuten würde ich ankommen und wahrscheinlich direkt verschwinden, also sollte ich lieber jetzt Leyla anrufen und nicht erst, wenn alle das Gespräch mitbekommen würden.

Seufzend wählte ich die Nummer meiner Freundin und wartete darauf, dass sie endlich abnahm.

„Hey Babe, warum rufst du an?"

Ich hasste es, wenn sie mich Babe nannte. Und das hatte ich auch schon oft genug gesagt.

„Ich muss dir was sagen. Ich ziehe weg."

„Wie bitte? Warum hast du mir das nicht schon längst gesagt?"

Ich verzog aufgrund ihrer geheuchelt hysterischen Worte das Gesicht.

„Weil ich es nicht für nötig gehalten habe. Und kommen wir zu dem eigentlichen Grund meines Anrufs zurück: Ich sehe keinen Sinn in einer Fernbeziehung."

Kurze Stille auf der anderen Seite des Hörers.

„Was willst du mir damit sagen?"

„Ich mache Schluss."

„Wie bitte?"

War das Mädchen wirklich so schwerhörig?

„Ich mache Schluss, Leyla. S-C-H-L-U-S-S."

„Und das sagst du mir über das Telefon? Du bist so ein Feigling, Luxe."

Ich zuckte mit den Schultern, dann fiel mir auf, dass sie das am anderen Ende der Leitung ja gar nicht sehen konnte.

„Mag sein, aber ich hatte wirklich keinen Bock auf eine Prügelei mit Leon."

Damit legte ich auf, stellte mein Handy auf lautlos und schob es zurück in meine Hosentasche. Dann sah ich mich um. Die Häuser um mich herum wurden langsam immer größer, die Gärten gepflegter und die Autos teurer.

Ich schnaubte nur leise und blendete die reichen Schnösel aus, welche mich entweder seltsam von der Seite ansahen oder mit falschem Lächeln grüßten. Wie ich es hier hasste.

Da konnte ich nur hoffen, dass meine neuen Pflegeeltern etwas normaler lebten, auch wenn es im Endeffekt sowieso egal war. Ich würde sie genauso von mir stoßen und zur Verzweiflung treiben, wie alle anderen auch.

Kaum hatte ich diesen offensichtlichen Entschluss gefasst, da sah ich auch schon das riesige Haus am Ende der Straße, welches von einem hohen Zaun und einem schon etwas älteren Eisentor von der Außenwelt getrennt wurde.

Ich hasste die ältere Villa, sie wirkte von außen und inne einfach viel zu sauber, alles war zu gepflegt, selbst die Baumgruppe am hinteren Ende des Grundstücks war perfekt getrimmt.

Und sonst war alles ziemlich alt. So musste ich jetzt einen rostenden Schlüssel in das Schloss stecken und herum drehen. Erst dann öffnete das antike Tor die Pforten zur Hölle. Mit einem angestrengten Schnauben ließ ich das Tor mit einem lauten Scheppern zufallen, machte mir nicht die Mühe es wieder abzuschließen und schlurfte auf das Haus zu.

Auf dem Vorplatz der Villa erkannte ich sofort zwei Autos, welche eigentlich nicht hierhin gehörten. Das eine kannte ich, das gehörte meiner zuständigen Jugendbetreuerin. Sie war recht nett, aber eindeutig überarbeitet.

Das andere Auto war eine G-Klasse in mattschwarz und machte mir sofort klar, dass ich es wieder mit einer Familie zu viel arbeitender Eltern und zu schlecht erzogener Kinder zu tun haben würde.

Manchmal fragte ich mich echt, ob ich vielleicht eine Strafe für das arrogante Benehmen der Familien sein sollte oder ob sie die Strafe für mein respektloses Verhalten waren. Beides war absolut denkbar.

𝔻𝕖𝕤𝕡𝕖𝕣𝕒𝕥𝕖 𝕃𝕠𝕧𝕖Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt