Ob ich es bereute? Ob sich mein Gewissen meldete? Sollte ich ehrlich sein? Nein. In dieser Verfassung hätte es mir nicht gleichgültiger sein sollen. Vier Jahre lang hatten sie mich in einer Röhre in der Dunkelheit festgehalten und ihr abscheuliches Experiment an mir durchgeführt. Sie hatten mein Leben zerstört. Meines und das vieler anderer Kinder. Sie hatten nichts anderes verdient. Und darum hatte ich auch kein schlechtes Gewissen.

Mit gleichgültiger Miene ging ich an ihnen vorbei, die Treppe hinauf. Hier war ich fertig. Sie sollten es nicht wagen, sich mir in den Weg zu stellen.

Oben angekommen bemerkte ich, dass der Raum bereits evakuiert worden war. Ein kleines rachsüchtiges Grinsen erschien auf meinen Lippen. Sie fürchteten sich. Es bereitete mir eine düstere Genugtuung.

Ich verließ den Raum und fand mich auch schon in der großen Halle wieder, in der sich nichts verändert hatte. Es sah noch genauso aus wie vor vier Jahren. Die Maschinen, die dicken Kabel, die Röhren mit den Kindern und auch die Wissenschaftler, die umher eilten, mit ihren blöden Klemmbrettern. Keiner schien von mir Notiz zu nehmen, waren zu sehr mit den Kindern beschäftigt.

„Nummer 648, in die Entsorgung!", ertönte eine elektronische Stimme aus den Lautsprechern. 648. So viele schon? Oder waren es schon weitaus mehr? Entführten sie etwa die Kinder von überall auf der Welt? Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Sie würden dafür büßen. Heute, oder eines Tages. Aber sie würden es büßen.

Ich bemerkte die Wut, die ich eigentlich unterdrückt hatte, die in mir wieder aufkam. Sie machte mich rasend. Ich bemerkte meine Augen, meine Zähne und meine Haut, die sich veränderten. Ich bemerkte die schuppige Schlangenhaut und die scharfen, tödlichen Eckzähne, die nur so vor Gift triefen konnten.

Die Temperatur stürzte steil ab. Fast zeitgleich bildete sich Eis, das die gesamte Halle einnahm. Mit rasender Geschwindigkeit zog es sich über den Boden, erklomm Maschinen und begrub sie unter sich. Nun bemerkten auch die Wissenschaftler meine unerwünschte Anwesenheit und erstarrten. Dem ein oder anderen fiel entsetzt das Klemmbrett scheppernd zu Boden.

„Sie ist hier.", hauchte Mrs Dorson. Ihr Gesicht kannte ich von früher.

Für sie hatte ich nicht mehr als einen finsteren Blick übrig. Ich bemerkte die Augen, die unaufhörlich auf mir lagen, mit denen mich die anderen Kindern aus ihren Röhren ansahen. Langsam weiteten sie sich vor Erstaunen, da niemand mich irgendwo gefangen hielt. Die Hoffnung, die in ihnen aufkeimte, auf ihre eigene Freiheit.

Und da passierte es. Es alles begann zu gefrieren, das Glas der Röhren, die Kabel, alles. Klirrend zerbrach das Glas in zahlreiche Splitter. Voller Unglauben verharrten die Kinder, begriffen nicht. Doch als die ersten sich erhoben, brach der Jubel aus. Überall in der Halle sprangen Kinder auf. Unfassbar, wie schnell das alles gegangen war. Jahre der Gefangenschaft waren innerhalb von Sekunden zunichte gemacht.

„Fangt sie ein! Lasst sie nicht entkommen!", schrie eine bekannte Stimme. Dorothea Magpie, die zu den besten Suchern gehörte. Doch dieses Mal würde ihr das nichts bringen.

Die Kinder überrannten ihre Entführer förmlich. Und ich folgte ihnen. Aber eines ließ mich nicht los. Suchend und beinahe verzweifelt schweifte mein Blick über die Mutanten. Auf der Suche nach einer bestimmten Person. Doch ich konnte ihn nicht finden. War er etwa getötet worden? Hastig schluckte ich diesen Gedanken hinunter. Nein. Ganz bestimmt nicht. Außerdem waren hier ziemlich viele Kinder. Ich fand ihn einfach nur nicht.

Und so stürmten wir hinaus in die Freiheit.

Die Freiheit jedoch währte nur kurz. Es waren nur einige Tage. Einige Tage, in denen die gesamte Menschheit von unseren Mutationen erfuhr. Die führenden Mächte natürlich sahen in uns eine Chance auf noch mehr Macht, dennoch erkannten sie in uns nicht mehr und nicht weniger als Abschaum. Ich war jung, naiv und trunken vor Glück. Ich hatte das nicht kommen sehen. Wäre ich zu dem Zeitpunkt älter gewesen, hätte ich mir vielleicht ein paar mehr Gedanken darüber gemacht, wie die Außenwelt auf uns reagieren würde. Aber das hatte ich nicht. Genauso wenig wie die meisten anderen. Wir waren alle Kinder gewesen. Obwohl es einige gab, die älter waren als ich, entflohen auch diese nur Hals über Kopf den Laboren.

Die Menschen hätten niemals von uns erfahren sollen. Doch wie sollte man genmanipulierte Kinder verstecken, die als erstes wieder zu ihren Familien zurück wollten? Die meisten wurden abgewiesen. Die Eltern erkannten ihre Kinder nicht wieder. Hielten sie für Monster und schossen auf sie. Töteten ihr eigen Fleisch und Blut. Das nahm mir die Hoffnung darauf, zu meiner eigenen Familie zurückzukehren. Es würde wohl niemals passieren. Und so hielt ich mich fern. Die Wissenschaftler, die sich anscheinend „Ambrosia" nannten, lauerten bei unseren Familien oder ehemaligen Freunden auf uns, bereit zuzuschlagen. Sie wollten ihre eigenen Schöpfungen töten. Fehler seien es gewesen, Fehlfunktionen, sagten sie. Doch sie mussten sich im Verbogenen halten, da die Regierung uns wollte.

So gut wie alle Kinder wurden gefunden und das waren viele. Ich jedoch nicht. Ich hielt mich versteckt, verhielt mich unauffällig. Bedachte jeden meiner Schritte sorgfältig. Die Freiheit, von der ich geträumt hatte, war nicht wie geplant. Es war nur ein weiteres Gefängnis.

Es geschah alles so schnell. Ehe ich mich versah, hatte die Regierung ihre Soldaten zurückgezogen und ersetzte sie durch Mutanten, da diese einfach viel stärker waren, als menschliche Soldaten. Außerdem verlor man lieber uns als sie. Und somit brachte man die Mutanten in die gefährlichsten Gegenden der Welt. Ließ sie für Menschen kämpfen, die sie verabscheuten.

Andere von uns stellte man in Auktionshäusern zur Schau und verkaufte sie an dem höchst Bietenden. Hatte auch nur irgendein Mensch genug Geld, bekam er einen Mutanten, der jedem seiner Befehle gehorchen musste. Als wären wir ein lebloses Objekt ohne Gefühle, ohne Persönlichkeit.

Würde uns auch nur irgendwo ein Fehler passieren, würden wir sterben. Ob im Gefecht oder kniend vor einem Richter, der keine Urteile fällte, sondern Befehle zur Hinrichtung gab. Wir waren verängstigte Kinder. Kinder, die nur nach Hause wollten. Wir wagten nicht, uns gegen sie zu erheben. Der Gedanke kam uns noch nicht einmal.

Ambrosia blieb im Untergrund. Sie suchten nach uns, töteten uns. Zu ihnen gesellten sich noch weitere Parallelgruppen, die sich der Aufgabe verschrieben, uns zu jagen und auszulöschen. In ihren Augen durften wir nicht existieren. Waren Fehler, die ausradiert werden mussten. Gefahren, die gebannt werden mussten.

Schon bald wurde es auch für mich immer gefährlicher. Also blieb mir nichts anderes übrig, als unterzutauchen. Zunächst hatte ich geglaubt, dass ich mich als Mensch ausgeben könnte. Eines Nachts brach ich in ein Geschäft ein, klaute Schminke, Kontaktlinsen und Haarfärbemittel. Zu meiner Verzweiflung musste ich feststellen, dass ich die Kontaktlinsen nicht vertrug. Meine Augen brannten und wollten gar nicht mehr aufhören zu tränen. Wäre es doch nur das gewesen. Eine Sonnenbrille hätte es auch getan. Aber wenig später musste ich feststellen, dass es ganz schön viel Arbeit war, auf meine ganze sichtbare Haut gleichmäßig Make-up zu verteilen. Irgendwo schimmerte immer ein bisschen weiß durch. Selbst, wenn ich es schaffte, hielt es nicht sonderlich gut und lange. Schon gar nicht an den Händen. Ebenso verzweifelte ich an dem Haarfärbemittel. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das benutzen sollte. Mit Ach und Krach wurden meine weißen Strähnen schwarz, doch weshalb auch immer wollten sie einfach nicht schwarz bleiben. Meine letzten Hoffnungen erstarben.

Und so endete ich bei einem reichen Mann und seiner Frau. Als Sklavin war es deutlich sicherer, als als Soldatin im Krieg. Ich fügte mich meinem Schicksal, nachdem ich keinen anderen Weg mehr sah. Das einzige, das mich aufrechterhielt, war der Gedanke, dass ich irgendwann einen Weg finden würde, der das alles wieder beenden ließ. Irgendwann.

Aber das alles war erst der Anfang.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now