Überlegung

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Entspannt lehnte sich Tira gegen die Wand eines alten kleinen Häuschens, welches ihr die Dorfbewohner netterweise zur Verfügung gestellt hatten. Schlafen wollte sie noch nicht, weswegen sie es sich draußen bequem gemacht hatte, um den klaren Sternenhimmel begutachten zu können. Schon als sie sich auf den Weg gemacht hatte, dämmerte es und so war ihr klar, dass sie sich ein Nachtlager suchen musste. Dass sie dieses Dorf noch gefunden hatte, war großes Glück gewesen, denn die Nacht war kühl und obwohl der Wind nicht sonderlich stark war, ließ er sie doch immer wieder frösteln.

Tira dachte über das Gespräch mit ihrem „Meister" nach.
„Um unnötige Ablenkungen zu verhindern, habe ich mir erlaubt, dir Teile deiner Erinnerungen zu nehmen. Sie könnten dich beeinflussen und Gefühle sind hier Fehl am Platz."

Tira brauchte nicht lange, um herauszufinden, welche Erinnerungen er meinte. Allein durch die Tatsache, dass sie sich nicht an ihren Tod erinnern konnte oder auch an denjenigen, der dafür verantwortlich sein könnte, wusste sie, welche Art Ablenkung er meinte. Sie bezweifelte jedoch, dass sie wegen irgendwelchen Erinnerungen ihre Chance auf ein zweites Leben zunichte gemacht hätte.

Sie beobachtete die wenigen kleinen Wolken dabei, wie sie langsam vor dem Mond vorbeiglitten, dabei Schatten auf die Landschaft warfen, welche vor ihren Füßen lag. Das hohe Gras raschelte, mal lauter, mal leiser, so wie es der Wind ihm befahl und einzig allein das Grillenzirpen übertraf das Windspiel. Nicht weit von ihr hörte sie das Rascheln der Bäume, welche im Wind leicht hin und her gewogen wurden und immer wieder das vereinzelte Knacken deren Äste. Vor wenigen Stunden war sie noch durch den Wald gewandert, hatte sich Beeren und Wurzeln gesammelt, damit sie morgen früh vor ihrer Abreise noch etwas zu sich nehmen konnte.

Sie war sich nicht sicher, ob sie in diesem Zustand überhaupt etwas essen musste, denn sie war eine Untote, wiederbelebt durch gestohlene Seelen aus dem Jenseits. Es war wahrscheinlich die Gewohnheit, denn es könnte sich seltsam anfühlen, überhaupt nichts mehr zu essen. Das erinnerte sie zu sehr an ihren eigentlichen Zustand und an den wollte sie eigentlich nicht denken. Sie wollte einfach wieder leben. Der Gedanke von geraubten Seelen, welche sie am Leben erhielten, war ihr unheimlich. Es war nicht in Ordnung, die Ruhe der Toten zu stören.

Ein lautes Geflatter ließ sie kurz zucken, darauf folge das Krächzen einer Krähe, welche sich in Richtung Wald bewegte. Sie muss wohl auf dem Dach ihres Hauses gesessen haben.
Tira kniff ihre Augen zusammen und blickte weiterhin in Richtung Wald. Ob das einer der Spione ihres Meisters war? Sie wusste ja nicht, mit wem oder was er sie beschatten ließ und allein der Gedanke daran, erzeugte in ihr ein Gefühl von völliger Nacktheit. Wer wusste denn, ob es dem alten Sack nicht auch möglich war, ihre Gedanken zu lesen? So wäre jede Überlegung, welche sich gegen ihren Meister richteten, ein Faustschlag in die Magengegend. Es brauchte nur einen Wink seinerseits und die Seelen würden ihren Körper wieder verlassen.

Trotzdem musste sie sich überlegen, wie sie sich aus dieser Situation befreien konnte, denn für längere Zeit wollte sie so nicht leben. Außerdem war es wohl klar, dass wenn Tira ihren Auftrag erledigt hätte, er sie wieder ins Jenseits zurück schicken würde. Denn sonst hatte sie keinen Nutzen mehr für den alten Herrn.
Doch welche Möglichkeiten gab es noch, auch ohne den Meister weiter zu leben? Nur eine und diese war aber auch die Riskanteste. Denn es ist genau das ihre Möglichkeit, wonach ihr Meister ebenfalls strebt. Die Splitter des Shikon no Tama. Es war sowieso schon seltsam für sie, dass er nur von einem Splitter sprach. Irgendjemand muss es zerbrochen haben, doch scheinbar waren auch die kleinen Splitter dazu in der Lage, leben zu retten. Genau diese sollte sie ihm beschaffen. Sieben, um genau zu sein.
Sieben Splitter, dazu verwendet, um die berüchtigten Söldner, die Shichinintai, wiederzubeleben.
Tira gab einen abfälligen Laut von sich. Söldner...
Warum sollte man diese Bande wiederbeleben? Menschen oder auch Youkais, welche für Geld töteten, gab es zu genüge. Warum dann also dieser Aufwand?

Noch mehr Sorgen machte ihr die Tatsache, wie sie ihnen die Splitter entwenden sollte. Im Kampf hätte sie keine Chance. Wenn man sie trennte?
Sie kannte die Shichinintai jedoch nicht und kannte so auch nicht deren Stärken und Schwächen. Jedenfalls traf das auf sechs von diesen zu, denn einen kannte sie mehr als gut. Sie war mit ihm aufgewachsen, hatte ihn trainieren sehen, hatte ihn kämpfen sehen und kannte seine Vorteile. Sie wusste so ziemlich alles über ihn, er dafür aber auch alles über sie. Sie hatten viele Jahre zusammen trainiert, wobei sie auch vieles von ihm gelernt hatte.

Jakotsu war ihr viele Jahre ein guter Bruder gewesen, bis zu dem Tag, an dem er auf Bankotsu traf und sie alleine in ihrem Dorf zurück ließ.
Auch wenn es ihr damals weh tat, hatte sie sich zuerst für ihn gefreut. Jedoch nur bis zu dem Punkt, an dem sie erfuhr, wie er sein Leben lebte. Sie konnte sein Verhalten nicht nachvollziehen, konnte aber auch nichts dagegen tun. Bei einem Wiedersehen hatte er ihr deutlich gemacht, dass sie sich nicht in seine Angelegenheiten einzumischen hatte, da dies böse Konsequenzen mit sich bringen würde.
Auch wenn er ihr Bruder war, so hatte sie nicht einem Moment lang daran gezweifelt, dass er seine Drohung wahr werden ließe.
Durch seine seltsame Art war Jakotsu ein Mensch, den man oft nicht ernst nehmen konnte, sie jedenfalls nicht, doch in diesem Moment verspürte sie so was wie Angst, als sie ihm gegenüberstand.
Dies war die letzte Begegnung, an die sie sich erinnern konnte. Ob ihr Meister ihr nicht auch hier einen Teil ihres Gedächtnisses genommen hatte, wusste sie nicht.

Langsam stand Tira auf und streckte sich. Es wurde immer kühler und außerdem würde morgen ein langer Tag werden. Sie hatte einen weiten Weg vor sich, wenn die Aussagen ihres Meisters über den Aufenthaltsort der Shichinintai stimmten.
Sie betrat ihre kleine Hütte und sofort begrüßte sie die angenehme Wärme des kleinen Feuers auf der Feuerstelle, welche sich mitten im Raum befand. Sie machte es sich auf dem ausgebreiteten Stroh gemütlich und blickte direkt in die Flammen, welche leise knisterten.

Sie war gespannt auf Jakotsus Reaktion, sollte sie ihm dann gegenüber stehen. Ob er auch von ihrem Tod wusste? Wer hätte gedacht, dass sich beide als Untote wiedersehen würden? Das Schicksal hatte es mit den Geschwistern nicht gut gemeint, sie beide in jungen Jahren sterben lassen, auch wenn es Jakostu als Söldner irgendwie verdient hatte. Trotzdem schmerzte es zu wissen, dass auch sein Leben in den Händen eines anderen lag. Im Endeffekt war er genauso machtlos wie sie.
Etwas unbeholfen darüber, wie sie nun vorgehen sollte, biss sie sich auf ihre Unterlippe.
Sie konnte ihm nicht einfach den Splitter entwenden, auch wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. So hatte sie sich das erste Wiedersehen nicht vorgestellt. Der Rest dieser Bande war ihr egal, doch Jakotsu eben nicht. Warum nur war er so dumm und glaubte, dass er so sein zweites Leben gut nutzte? Weil es Bankotsu glaubte? Dieser verdammte Kerl hatte einen großen Einfluss auf ihren Bruder und genau hier lag ihr erster Anhaltspunkt. Denn wenn Jakotsu eine Schwäche hatte, dann war es sein Anführer.
Genau diese Schwäche musste sie für sich nutzen, denn so war es hoffentlich möglich auch sein Leben zu schützen.

Frieden mit HindernissenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt