Visionen: Die Scharsan

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Eine Gesellschaft basierend nur auf der Grundlage der Existenz.
Auf dem simplen Bewusstsein zu leben, zu fühlen. Eine Gesellschaft ohne Hektik, ohne Stress. Ein Leben nur aufgebaut um zu leben. Eine Zivilisation, die sich einem reinen Geiste und innerer Ruhe verpflichtet hat. Eine Gemeinschaft, in der der soziale Rang des Einzelnen nicht abhängig von Geld, Besitz oder anderen materiellen Dingen ist, sondern allein von seiner Fähigkeit in Ruhe und Einklang mit sich selbst leben zu können. Jene welche darin scheitern, sich nicht konzentrieren können, keine spirituelle Ruhe finden oder sich sogar weigern diesen Lebensstil anzunehmen werden bedauert. Willigen und Motivierten wird geholfen, sie werden aufgenommen, sie werden gelehrt ihren Geist zu öffnen, das Leben in vollen Zügen wahrzunehmen und in ewigen Trance und Meditation ihr wahres Glück zu finden. Diejenigen, welche diese Techniken perfektionieren, deren Seele in Resonanz mit dem Universum schwingt bilden die oberste Schicht dieser Gesellschaft. Sie sind Lehrer, sie sind Mentoren und Ratgeber, sie sind der Adel, sie sind die wichtigsten Persönlichkeiten dieser Zivilisation. Die Weisheiten, die sie in ihren tiefen Meditationsstunden und Studien finden werden niedergeschrieben, verbreitet, in Lehrpläne aufgenommen. Schon in frühen Kindheitstagen wird der Jugend von ihren Eltern aus diesen Werken, vor dem Schlafengehen, vorgelesen, natürlich in etwas vereinfachter Form. Alle streben nach dem Wissen dieser Gelehrten und sie wiederum versuchen möglichst viele zu erleuchten. Ihre gesamte Zivilisation ist um diese Ideologie errichtet worden. Das ist die Zivilisation der Scharsan.


„Ein Scharsan lebt nicht einfach nur, er fühlt. Ein Scharsan langweilt sich nicht, er meditiert. Ein Scharsan träumt nicht, er hat Visionen." - diese Worte fielen in Teemus Kopf, als er aufwachte und die Augen öffnete. Visionen? War es das, was er jede Nacht im Schlaf sah? Hatte er schon Visionen? Er musste heute unbedingt mit Utischala Nepheli darüber reden, beschloss er während er aufstand und sich umkleidete. Teemu war ein junger, aber selbständiger Scharsan. Seine Eltern erzogen und lehrten in gut, machten aus ihm einen fröhlichen, lebhaften und wissbegierigen Scharsan. Heute wohnte er allein, in einer eigenen, kleinen Wohnung in Sorahr, der größten und wichtigsten Stadt des ganzen Planeten. Millionen von Gelehrten und Lernenden wohnten hier und versuchten jeden Tag, ihren seelischen Zustand zu verbessern und mehr über das spirituelle Universum zu erfahren. Auch der Rat der „Utischala", bestehend aus den höchsten Mentoren, hatte in Sorahr seinen Sitz und bildete die Regierung der Scharsan. In der Scharsanischen Kultur wurde der Titel direkt in den Namen eingebunden, während der Familienname meist völlig weggelassen wurde. So wurde Teemu eigentlich Sisya Teemu genannt. „Sisya" bedeutete Schüler, während der Titel „Utischala", übersetzt Meister oder Lehrer nur den Weisesten vorbehalten war. Aber damit beschäftigte sich Teemu nicht, als er sein rundes Schlafzimmer verließ und sich in der Küche ein einfaches Frühstück aus diversen Früchten zubereitete. Was ihn seit einigen Tagen beschäftigte, waren seine Träume. Und ob er sie als solche bezeichnen sollte. Sein Gefühl sagte ihm, dass es etwas zu bedeuten hatte, dass mehr dahinter steckte, dass sie etwas Besonderes wären. Aber zugleich wirkten sie so unrealistisch. War es nicht eingebildet von ihm zu denken, dass er Visionen hätte? Er war nur ein einfacher Sisya, den der bloße Anblick des Ratsgebäudes ins Staunen versetzte. Redete er es sich das alles womöglich nur ein? War er unzufrieden und wollte mehr sein, als er tatsächlich ist? Nein! Teemu erschrak beinahe bei dem Gedanken. Das ist es nicht, dachte er zu sich. Er hat alles was er wollte, Gier und Neid sind ihm fremd. Aber irgendetwas stimmte nicht. Egal ob einfache Träumerei oder nicht, er würde es heute herausfinden, dessen war er sich sicher. Nachdem er fertig gegessen hatte, machte sich Teemu auf den Weg, verließ seine Wohnung, ging die Treppen hinab und trat ins Freie.

Die Straßen waren still, der Himmel strahlend gelb und klar. Ein herrlicher Tag auf dem Planeten Fides. Es wehte ein angenehmer Wind um die geschwungenen, eleganten Gebäude der Stadt. Sorahr war, trotz ihrer vielen Einwohner, eine verhältnismäßig ruhige Stadt. Es gab nahezu kaum Fahrzeuge auf den Straßen, nur etwas entfernter hörte man leise Züge vorbeifahren. Die Scharsan begrenzten die Verwendung von Technologie in ihrem Alltag auf ein Minimum. So liegen persönliche Fahrzeuge beispielsweise nicht in ihrer Natur. Eine zu starke Anwesenheit von Maschinen oder Computern empfanden die Scharsan als störend und unrein. Die meisten Fabriken wurden stets auf den Stadtrand verdrängt und die Erschließungen von Parks und schön verzierten Plätzen gefördert. Darüber hinaus ermöglichte das dünne Bahnnetz von Sorahr eine stille, effiziente und verträgliche Möglichkeit der schnellen Reise. Die Züge wurden eigens dafür konzipiert möglichst leise über die Gleise zu schleichen. Teemu benutzte einen dieser Züge täglich auf seinem Weg zum Stadtzentrum. Auf dem Bahnhof standen, wie an vielen Stellen, Töpfe mit großen, bläulichen Pflanzen und wunderschönen Blüten. Teemu wartete jeden Tag an der gleichen Stelle, neben einem dieser Töpfe und nutzte, wie viele andere Scharsan auch, die Zeit um Ruhe zu finden und nachzudenken. Seine Gedanken wanderten von den blauen Pflanzen, aus dem Topf heraus, über die hellen Gleise, auf den anderen Bahnsteig, kletterten eine Säule hinauf und blieben schließlich im Gelb des Himmels hängen, das durch die Glasüberdachung des Bahnhofes zu sehen war. Im Himmel, durch die Atmosphäre leicht verblasst aber doch deutlich sichtbar, Smed, der braune Mond von Fides. Teemu fragte sich, warum er im Vergleich zu seiner Heimat so dunkel war. Was auf seiner Oberfläche zu finden wäre, ob überhaupt etwas zu finden wäre. Die Scharsan verfügten über kein besonders aktives Weltraumprogramm, einige wenige Satelliten wurden in den Orbit befördert, aber an Dingen, die weiter außerhalb lagen bestand wenig Interesse. In den Weltraum konnte man nicht spazieren, zum braunen Mond konnte man nicht mit der stillen Bahn fahren. Dazu würden weit größere, weit modernere und weit lautere Gerätschaften benötigt werden. Nur sehr wenige Scharsan riskierten ihren guten Ruf und äußerten Unterstützung für die notwendige Industrie. Eine derartige Entwicklung würde von der Bevölkerung unsicher, vorsichtig und extrem misstrauisch beäugt werden. Spinnereien von großen Fabriken, welche dazu in der Lage wären Raumschiffe zu konstruieren und komplexe Computer, die in Sekundenschnelle Ruten zu anderen Planeten oder gar Sternen berechnen, wurden für gewöhnlich belächelnd abgewiesen und, vorrangig von der älteren Generation, als „umfundi" abgetan. Ein herablassendes Wort, was übersetzt soviel wie unrein, unwürdig, verkommen oder schlicht dümmlich bedeutet.

Teemu wurde aus seinem Tagtraum geweckt, als sich das flüsternde und klare Geräusch des Zuges, der langsam in den Bahnhof einfuhr, an seine Ohren kuschelte. Die Türen öffneten sich, wenige Personen stiegen aus, viele stiegen ein. Teemu setzte sich neben einen älteren Scharsan, der mit geschlossenen Augen zu meditieren schien, ans Fenster. Geräuschlos begann die Stadt sich zu bewegen und zog an Teemus blauen Augen vorbei. Es wanderten Bäume und Gebäudereihen vorüber. Die Architektur der Stadt zeichnete sich außer den geschwungenen Formen auch mit rundlichen Auswüchsen aus, wahrscheinlich die Schlafzimmer der Wohnungen. Scharsanische Schlafräume waren meist rund. Während die Betten mit dem Kopfteil zur Wand standen, befand sich in der Mitte für gewöhnlich eine kleine Matte oder ähnliches zum bequemen Meditieren. So wie das Zentrum der Galaxis nach außen strahlt und leuchtet, so versuchten die Scharsan von der Mitte dieser Räume aus, ihre Umgebung fühlen zu lernen und ihr spirituelles Dasein aufleuchten zu lassen.

Als sich der Zug der Stadtmitte näherte, blockierte ein auf dem anderen Gleis entgegenkommender Zug für einen Moment die Sicht. Danach war anstelle von Häusern einer der größeren Parks zu sehen. Mitten in der Stadt erstreckte sich ein Meer aus bläulichen Baumkronen, darunter, in zahlreichen Büschen, bunt gemischte Blüten und Knospen, wie sie auch an der Topfpflanze am Bahnhof zu finden waren. Der Zug schlich geschwind über eine erhöhte Brücke durch den Park und ermöglichte so den Blick auf ein großes, metallisches, zerborstenes und überwachsenes Objekt im Park. Einige scharf aussehende Bruchstücke ragten, wie gigantische Sägeblätter aus dem weichen Baumkronenmeer. Teemus Blick setzte sich an den stählernen Überresten fest und ein gemischtes Gefühl aus Bedauern und Neugierde überkam ihn. Es war ein uraltes Relikt aus einem Kapitel auf das nur wenige Scharsan zurückblicken wollen.

AlytusWhere stories live. Discover now