Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt

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~Mile~

»Sie kommen! Sie sind da!«
Seine Freude war kaum in Worte zu fassen. Doch trotzdem versuchte er es und schrie seine Worte durch das Treppengewölbe des Tempels so laut er konnte.
»Ja, Mylord, das sagtet, nein, brülltet Ihr bereits um die Dreimillionen mal«, maulte Feivel, der noch immer wie ein nasser Sack über Miles Schultern hing. Der arme Kerl wurde bei jedem von Miles Schritten kräftig durchgeschüttelt, denn er nahm bei jedem Tritt drei Stufen auf einmal.
Mile wetzte, ohne auf Feivel einzugehen, weiter, bis er die letzten Stufen hinunterhechten konnte.
»Red! Katmo! Sie sind hier! Sabrina ist zurück!«, rief er und seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wider.
»Dreimillionen und eins!«, jaulte Feivel.
Mile hörte Schritte, die über den Steinboden des Tempels eilten. Im nächsten Moment fiel ihm eine Flut aus rotem Stoff um den Hals und schwarzes Haar kitzelte ihn an der Nase.
Feivel rutschte ihm herunter und der Rattenfänger knallte auf den Boden, wo der allzeit bereite Retter der Hilflosen, auch genannt Katmo, der gestiefelte Kater, ihn ansprang und mit seinen Krallen bearbeitete.
»Du hast es geschafft! Ich wusste es! Mile, bist du irgendwie verletzt? War es ein schwerer Kampf?«, begann Red, ihn sofort aus zu fragen.
Der Rattenfänger lachte und säuselte: »Oh ja, unser geliebter Lichterlord ist wirklich unglaublich. Er hat mich besiegt, als wäre unser unglaublich harter Kampf ein Spiel...«
»Ruhe du Finsterling! Du bist dumm und hässlich und stinkst ganz fürchterlich nach Ratte und Baumharz und Käse und Müll!«
Mile löste sich sanft von Red, zog den Kater, der noch immer mit seinen Krallen auf den Rattenfänger einhackte wie ein geistesgestörter Baumfäller, von seinem Opfer.
»Katmo, er wird nicht abhauen, du musst ihn nicht zerhäckseln«, besänftigte er den Kater und stellte ihn, einen Meter entfernt von dem Rattenfänger, auf seine vier Pfoten.
»Und Red«, meinte er, »wir sind beide nicht verletzt. Ausserdem haben wir nicht gekämpft. Wir haben Schach gespielt. Und ich habe gewonnen...«
»Aber nur knapp! Vergesst nicht, dass ich Euch fast fertig gemacht hätte, Ihr selbstgefälliger Feuerteufel, Ihr...«
»Hüte deine Zunge, elendiger Rattenmann!«, fauchte Katmo.
»Er hat Recht, es war knapp, aber dann habe ich... Halt! Egal! Keine Zeit! Red, Sabrina ist zurück!«, rief Mile aufgeregt.
»Dreimillionen und zwei«, seufzte Feivel.
Red nickte etwas unsicher. »Ja, stimmt...«, murmelte sie, liess sich jedoch von Mile mitziehen.
Red und Sabrina hatten sich nicht wirklich verstanden. Hoffentlich würde sich das nun ändern...
»Hey! Und was wird aus mir und dem Rattenheini?«, maunzte Katmo.
»Ääähm... Ihr... Ihr beide bleibt am besten einfach hier!«, rief Mile, ohne sich umzudrehen. Er hatte nur die grosse Flügeltür des Tempels im Blick, hinter der sich das Labyrinth aus Gassen und Strassen Aramesias befand.
»Was?!«, riefen Rattenmann und Kater gleichzeitig.
Mile lachte und stiess die Tempeltüre auf.


~Sabrina~

Sabrina spürte ein leichtes Kribbeln im Magen, als das Schiff immer mehr an Höhe verlor. Zwar sehr langsam, doch trotzdem schien der Boden nur so auf sie zu zurasen.
»Sie ist wieder da...«
Der Gedanke war auf einmal da. In ihrem Kopf.
Woher kam er? Wem gehörte er?
Sabrina blickte sich um.
Alle Seeleute starrten auf das Wasser hinab, wo das Schiff bald im Wasser landen sollte.
Doch alle hatten noch ihre Gedanken-Wand aufrecht stehen.
»Werden wir sie sehen können?«

Schon wieder! Fremde Gedanken! In ihrem Kopf!
»Sabrina?«
Faritales, der schwarze Dämon. Er sass wieder auf ihrer Schulter und glotzte sie besorgt an.
»Ja? Fari?«, murmelte sie etwas verwirrt und fuhr sich durch das Haar.
»Du siehst irgendwie ziemlich... bleich aus. Wirst du krank?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist es nicht. Ich weiss nicht... Irgendwie... Da sind auf einmal Gedanken... Fremde... Gedanken...«
»Eisprinzessin!«
»Ah!«, rief sie und hielt sich den Kopf.
Wie laut Gedanken doch sein konnten! Wie unerträglich laut!
Der Dämon flatterte erschrocken auf.
»Sabrina! Was ist denn los mit dir?«
»Gedanken! Oh, Himmel! Faritales! Da sind schon wieder Gedanken! Ich kann sie nicht abschalten! Sie sind schrecklich laut!«, erklärte sie.
»Was für ein wunderschönes Schiff! Ob ich...«
»Wieso dauert das so lange?«

Es wurden mehr. Wieso mehr?
Und warum? Woher kamen die Gedanken? Woher nur?
»Ich wusste es!«
»Oh, ich hätte nicht gewusst, dass Schiffe fliegen können...«

»Ruhe! Seid still!«, schrie sie und hielt sich die Ohren zu.
»Oh, Sabrina! Was ist denn mit dir los? Ich... Ich werde Hilfe holen gehen! Rühre dich nicht von der Stelle!«, rief Faritales und flatterte eilig weg.
Als ob sie sich jetzt bewegen würde! Das war schlimmer als Migräne!
»Jetzt steht mir der Typ schonwieder auf den Fuss!«
»Oh, bei allen Himmeln! Was für ein Gedränge!«
»Sie ist da! Sie ist wieder da! Die Eisprinzessin!«
Wie ein aggressiver Hornissenschwarm, der es auf sie abgesehen hatte, prasselten die Gedanken auf sie ein. Der Schmerz, der nun ihren Geist plagte, war so real... Er war kaum mit etwas zu vergleichen. Am nächsten käme der Schmerz dem, den man verspüren musste, wenn man von einem Duzend LKWs überrollt werden würde.
»Oh, diese Zwerge. Stehen dumm und klein, wie sie sind, herum und wenn man auf sie drauftritt, motzen sie...«
»Dass sie auf die Idee gekommen sind, in dem See zu landen, das war wirklich schlau.«
Ihr wurde schwindelig. Da waren so viele Wesen, so viele Seelen und so, so viele Gedanken!
So unglaublich viele, dass es ihr unmöglich war, selbst ihren Verstand zu nutzen.
»... Wie...«
»... Stadt...«
»... Bereit...«
Sätze konnte sie nun nichtmehr herausfiltern. Es waren viel zu viele.
Das ganze Meer aus Gedanken, das aus allen Köpfen aller Wesen, die sich in Aramesia aufhielten, ergoss sich über ihr.
»... Unglaublich...«
»... Wir...«
»... Wie...«
»Sabrina? Oh, sie sieht ja wirklich übel aus! Dämon! Was hast du mit ihr gemacht?!«
»Nichts! Ich schwöre es! Das hat irgendwas mit ihrer Telepathie zu tun...«
Stimmen. Waren sie real? Oder doch nur irgendwelche Fremden Hirngespinste?
Etwas berührte sie an der Wange. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihre Augen geschlossen hatte. Sie schlug sie auf und sah in ein Gesicht, konnte aber nicht erkennen, wem es gehörte.
»Sabrina? Hörst du mich?«
».... Schiff...«
»... Ich...«
»... Nicht...«
»Du musst sie tragen, Pirat...«
»Tragen? Aber wohin denn, Dämon?«
Pirat? Hook. Oh, dem Himmel sei Dank, er würde ihr ganz sicher helfen können!
»Zu diesem... Mädchen. Du weisst schon, ihre Cousine. Mondkind, heisst sie doch, oder?«
»Mondkind? Von dem, was ich von Sabrina weiss, glaube ich, dass wir Mondkind kaum finden werden. Dieses Kind kommt und geht, taucht auch und verschwindet wieder, so, wie ihr es gerade passt.«
Sabrina nickte, wodurch ihr schwindelig wurde...
»Siehst du?«, meinte Falks Stimme etwas frustriert. Sanfter fuhr er dann fort: »Gibt es niemanden, der uns sonst helfen könnte mit diesem... Telepathie-Problem?«
»... Versuchen...«
Sabrina raufte sich die Haare.
»... Könnte...«
Sie warf den Kopf hin und her. Konnte das nicht aufhören?
Sie versuchte, die Armada von Gedanken zu blocken, so, wie sie es schon bei Peter getan hatte, doch es funktionierte nicht. Es waren zu viele...
»Sabrina! Weisst du, wer uns helfen könnte?«, fragte Falk und legte seine Hände um ihr Gesicht.
Sie starrte ihn an, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.
»... Zinnen...«
»... Hunderte...«

»... gespannt...«
»Bitte, Sabrina! Streng dich ein letztes Mal an. Ich weiss, dass es eine Lösung gibt. Du musst es versuchen!«, redete Falk auf sie ein.
Sie kniff die Augen zusammen, versuchte alles andere aus ihren Geist zu verbannen.
Es war, als würde man sich einem Zug entgegenstellen, um ihn auf zu halten. Es war eine unglaubliche Kraftanstrengung, doch irgendwie gelang es ihr, ihren Geist für einen winzigen Moment frei zu bekommen.
Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Gesicht auf.
Beinahe weisse Haut, blondes Haar und ein gigantischer Zylinder.
»Topper!«, brachte sie heraus. Dann brach alles wieder über sie herein.
»Gut. Topper. Der Hutmacher...«, murmelte Falk. Seine Stimme klang weit entfernt, obwohl sein Gesicht doch genau neben ihrem schwebte.
Der Pirat schob seine Arme unter ihre Beine und den Rücken und hob sie vom Boden auf.
Wie war sie eigentlich dort hingekommen? Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie zu Boden gegangen war...
Doch nun trug sie ja Falk...
»... Rettung...«
»... See...«
»... Es...«
Wäre da bloss nicht dieser Gedanken-Scheiss.
»... Tod...«
»... Vielleicht...«

»... Gehen...«
Falk polterte die Treppe hinab, die zu den Kajüten führte, wo die Schiffsbesatzung schlief. Die Schiffsbesatzung und ein ziemlich irrer Hutmacher.
Nun standen sie in einem Gang, von dem man durch viele verschiedene Türen treten konnte. Hinter diesen Türen lagen grosse Schlafsäle. Doch in welchen man den Hutmacher antreffen konnte, das war ein Rätsel, das es nun zu lüften gab.
»Wo müssen wir jetzt hin?«, fragte Falk und drückte sie fester an sich.
»Ähm... Ich finde den Typen immer, indem ich lausche. Der singt immer ganz schrecklich vor sich hin...«, antwortete der Dämon.
»... Immer...«
»... woher...«

»... Grund...«
»Ja, das mit dem Gesang ist mir auch schon aufgefallen...«, murmelte der Pirat und schwieg sogleich, um zu lauschen.
»... mein...«
Ohne Pause prügelten die Gedankenfetzen auf sie ein. Sabrina presste beide Hände auf die Ohren, obwohl sie doch wusste, dass das nichts bringen würde. Da war nichts Greifbares, das ihren Schmerz verursachte. Da war nichts, dass man abstechen, erwürgen oder totschlagen konnte, um zu verhindern, dass ihr Kopf explodierte. Sie wimmerte.
»Psst«, hauchte Falk und legte ihr seinen Finger auf die Lippen.
»Du hast es gleich geschafft. Halte durch!«
»... Himmel...«
»... Stehen...«
Sabrina nickte und biss die Zähne aufeinander.
»Tee, oh mein Tee. So heiss wie Schnee, oh, du mein liebster Tee...«
Der Gesang des Hutmachers war kaum zu hören. Nur sehr dumpf drang er durch die Wände.
»Er ist nicht in diesem Stockwerk!«, verkündete der Dämon.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Falk.
Faritales verdrehte die Augen und erklärte: »Ich bin ein Nachtmahr! Meine Ohren sind ausserordentlich gut. Schliesslich muss ich doch die Schlafenden finden, damit ich ihre Träume fressen kann. Nicht alle von denen schnarchen so laut wie die Prinzessin in deinen Armen...«
Gezielt denken konnte sie zwar nicht, aber dem Anflug von Wut nach zu urteilen, die in ihr aufwallte, würde sie den Dämon umbringen, sobald es ihr wieder besser ging.
»Hör nicht auf ihn«, flüsterte Hook und lächelte sie etwas besorgt an.
Der Pirat trug sie eine weitere Treppe hinab. Nun war der Singsang des Hutmachers viel deutlicher.
»Tee, Tee, Tee... Ich bin ein junges Reh...«
»Der Typ ist echt irre«, murmelte Faritales.
»... Hummel...«
Irre? Irre würde sie bald werden, da sie diese blöde Telepathie nicht abschalten konnte.
»Ganz hinten. Die letzte Türe rechts!«
Falk rannte an dem noch immer in der Luft flatternden Dämonen vorbei.
Die Welt um Sabrina bewegte sich sehr heftig, denn der Pirat machte grosse Schritte. Dann gab es ein knallendes Geräusch und die Tür zur Kajüte schwang auf.
»... finden...«
»... Angst...«
»... Lady...«
»Hutmacher!«, brüllte Falk.
Jeremy Topper trudelte durch den beengten Raum und sang noch immer: »Ich trage den Tee! Nicht der Tee trägt mich, nein, nein, nein! Ich! Ich trage den Tee!«
»Ich dachte, hier lägen die Schlafsäle! Aber wahrscheinlich haben sie den Irren extra in dieses Einzelzimmer gesteckt, denn dieses Geplärre kann man ja kaum aushalten«
»Topper!«, brüllte Hook.
»Gib mir ein T! Gib mir ein E! Gib mir... Ääähm... Nochmal ein E!«, trällerte der Hutmacher und hüpfte an der Tür vorbei.
»Verdammter Irrer! Verdammter Tee!«, fauchte Falk, der Pirat und drängte sich an Jeremy vorbei, um Sabrina auf das Bett zu legen, das an der Wand gegenüber stand.
»Hallo, Pirat, hallo Eisprinzessin und hallo Nachtmahr. Ihr seid stets willkommen hier. Will jemand einen Tee?«, fragte Topper und klapperte mit seiner Teetasse, die er in Händen hielt. Er schien wirklich von diesem dampfenden Getränk zu leben...
Faritales nickte und meinte: »Ja, bitte! Hast du auch Hagebutte? Ich liebe...«
»Nein! Wir wollen keinen Tee! Wir sind hier, weil irgendetwas mit Sabrina nicht stimmt!«, knurrte der Pirat, der aussah, als würde er jeden Moment aufspringen, um dem Hutmacher seinen Tee über den Kopf zu leeren.
»...Widerstand...«
»... Unter...«
»... Zusammen...«
Sabrina zischte. In ihrem Kopf pulsierten sie.
Sie...
Sie alle.
Kinder, Frauen, Männer.
Menschen, Elfen, Zwerge.
Lebende, Tote, Untote.
Pulsierten.
Pulsierten in ihrem Kopf.
Pulsierten in ihrem Verstand.
Pulsierten in ihrer Seele.
Und jeder Gedanke und sei es nur ein Fetzen, jeder einzelne schnitt in ihre Substanz.
Sie liessen ihren Geist bluten. Liessen ihren Geist schreien. Liessen ihren Geist sich winden.
»... Berge...«
»... schrecklich...«
»... Wer...«
Der verrückte Hutmacher liess seine Teetasse zu Boden fallen, wo sie zerschellte. Der Tee floss über die Planken und versickerte zwischen ihnen.
»Oh! Oh! Was fehlt ihr denn? Kleines, was hast du?«, fragte Jeremy und tapste auf sie zu.
»Platz da!«, murmelte und schubste den Piraten zur Seite.
Sabrina kniff die Augen fest zu, denn das Licht, das durch ein Bullauge über ihr fiel, schien die Kopfschmerzen noch zu verschlimmern.
»Sie spricht nicht. Nicht mehr. Der Dämon behauptet jedoch, sie hätte irgendetwas von fremden Gedanken gesagt, bevor sie in diesen... Zustand gefallen ist. Hutmacher, Ihr müsst ihr helfen, sie hat Schmerzen!«, redete Hook auf den Verrückten ein.
»Fremde? Fremde Gedanken? Oh! Oh! Das ist gar nicht gut! Aber ich hätte auch daran denken sollen! Wieso bist du so zerstreut, du wirre Seele. Hutmacher, wieso hast du nicht daran gedacht?«, murmelte Jeremy Topper, als wäre er Schizophren und spräche mit sich selbst.
»An was gedacht?«, hakte Faritales nach.
»Muss noch da sein... Irgendwo...«
»Hutmacher! Was ist los?«, half der Pirat dem Nachtmahr.
»... Weit...«
»... Still...«
»... Zum...«
»Sabrina hat noch nicht gelernt, ihre Telepathie zu kontrollieren. Und nun wird sie bombardiert von den Gedanken aller Wesen aus Aramesia. Je geringer die Distanz, desto klarer und gewaltiger werden sie...«
»Du meinst«, fragte Faritales, »sie bekommt die volle Ladung aramesischer Gedanken ab?«
Jeremy Topper nickte.
»Oh, dann hat sie bestimmt Kopfschmerzen...«
»Kopfschmerzen?!«, rief der Hutmacher und lachte. »Ein normaler Mensch hätte jetzt Mousse au Gehirn im Kopf. Eine Eisprinzessin mag die Stärke besitzen, um dieser mentalen Qual Stand zu halten, doch wie lange, das kann ich nicht sagen...«
Falk packte den Hutmacher am Kragen seines Hemds, hob ihn in die Höhe und drückte ihn gegen die Wand. Das Holz knarzte, als der schwere Körper des Hutmachers dagegen krachte. Mit einer Hand hielt er ihn so fest und den Haken presste er ihm unter das Kinn.
»Du wusstest, dass so etwas passieren könnte? Wieso hast du ihr nicht geholfen? Sie sie dir an! Sie leidet schrecklich!«, knurrte der Pirat.
»... Aufwändig...«
»... Freiheit...«
»... Regen...«
Jeremy würgte und zappelte, doch Falk liess ihn nicht runter. Er hatte den Kragen des Hutmachers fest im Griff. Langsam stieg dem Irren die Röte ins Gesicht, denn Hook drückte ihm die Luft ab.
»Lass ihn runter, dummer Pirat! Wie soll er Sabrina helfen können, wenn du ihn erwürgst?«, murmelte der Dämon und zog Falk an den Haaren, doch der rührte sich nicht.
Blitzschnell hob Jeremy Topper die Hand, zupfte eine Stecknadel aus der Brusttasche seines Mantels und piekte dem Piraten in die Hand.
Falk liess ihn vor Schreck fallen, sodass er auf dem Hosenboden landete und dort schnaufend sitzen blieb.
»Ich glaube... Glaube, ich habe etwas, dass... dass die Eisprinzessin retten könnte... Oh, Pirat... Macht das niemals wieder!«, keuchte der Hutmacher und fasste sich an den Hals.
»Hilf ihr! Bitte!«, flüsterte Falk und liess sich ebenfalls zu Boden sinken. »Sie rettet mir jeden Tag das Leben.«
Wäre da nicht dieser apokalyptische Schmerz in ihrem Oberstübchen würde sie nun so rot wie eine Tomate werden...
»... Wachen...«
»... Teil...«
»... Sieben...«
Jeremy nickte langsam, dann rappelte er sich auf und begann, in einer Truhe zu wühlen, die neben der Tür stand.
»Suchet den, der die Geister lenkt und deinen Schmerz in Netzen fängt!«, sang Jeremy leise, während er jedmöglichen Kram durch das Zimmer pfefferte.
Eine Kristallkugel flog im hohen Bogen an die Wand, wo sie zerschellte. Eine fliegende Kerze, in Form einer Ananas schoss Faritales ab, der dann etwas benommen auf den Boden knallte. Ein Gebiss segelte auf Falk zu, der sich jedoch schnell genug ducken konnte, woraufhin sich die falschen Zähne an dem rechten Bettpfosten festbissen, als wären sie tatsächlich lebendig.
»... Nein...«
»... Überprüfen...«
»Oh!«, rief der Hutmacher.
»Hast du gefunden, was du suchst?«, fragte Falk der noch immer etwas befremdet das Gebiss anstarrte, das nun begonnen hatte, den Bettpfosten aufzufressen. Die Zähne nagten an dem Holz, wie ein Hund an seinem Knochen.
»Nein«, meinte der Hutmacher etwas enttäuscht, wurde jedoch sogleich wieder etwas fröhlicher. »Dafür habe ich meine Wollsocken gefunden. Die habe ich schon überall gesucht!«
»Hutmacher!«, riefen nun Faritales und Falk gleichzeitig, woraufhin der Verrückte erneut mit seinen Sachen warf. Kuckucksuhr, Schraubenzieher, Schrumpfkopf, ja, sogar eine vollständige Klaviertastatur warf Jeremy aus seiner Truhe.
»Nein, nein, nein... Das auch nicht... Wo ist es nur... Wo könnte es... Da!«
»Wollsocken?«, fragte Faritales und ging hinter dem Schrumpfkopf in Deckung.
Jeremy Topper richtete sich auf. »Nein! Ich hab ihn!«
»Was ist das?«, fragte Falk aufgeregt. Er lief zu ihr, setzte sich an den Bettrand und strich ihr das wilde Haar aus der Stirn.
»Das ist ein Traumfänger«, erklärte Jeremy und hielt das Kultobjekt in die Höhe.
Faritales kreischte und flüchtete unter das Bett.
»Komm mir bloss nicht zu nahe mit dem Ding! Eine Berührung und ich verwandle mich in heisse Luft.«
»... Waffen...«
»... ein...«
»... fiegen...«
»Ein Traumfänger?«, fragte Falk Kopfschüttelnd. »Nein, da muss noch mehr dahinter stecken. Wieder irgend so ein magisches Dingsda. Aber Hutmacher, siehst du denn nicht, was all diese Magie verursacht? Die Dunklen konnten nur all diese Macht an sich reissen, weil sie so viel Magie besitzen!«
Der Pirat stand auf und stellte sich schützend vor Sabrina, die noch immer schwer atmend auf dem Bett lag, die Augen weit aufgerissen, alles mitbekommend, aber unfähig, sich irgendwie in das Geschehen einzumischen.
Ihre Gedanken waren da. Sie zuckten ab und zu flüchtig in ihrem Geist auf, gerade so, damit sie das was sie sah und hörte verstehen konnte, doch nicht genug, um sich zu bewegen, mitteilen oder helfen zu können. Ihre Gedanken waren nur Funken in einem gewaltigen Inferno. Ein Lufthauch in einem gigantischen Wirbelsturm. Ja, eine Träne in einem ganzen Ozean. Traurig, winzig, still und wehrlos.
Eisprinzessin Hin oder Her. Sie war ein kleines Mädchen.
»... jung...«
»... des...«
»... Wunder...«
»Du denkst, die Magie ist schuld daran, dass diese Welt den Bach runter geht? Dummer Junge. Dummer Piratenbengel«, kicherte der Hutmacher. »Magie ist, was diese Welt zusammenhält. Magie hindert, dass der Strom der Zeit zusammenfällt. Magie macht, dass keine Dimension mit anderen zusammenschellt. Denn sie hält den Weltenbaum, Wurzeln, Blätter, Äste, damit er nicht verwelkt.«
»Schön gedichtet. Könntest du nun zum Punkt kommen, bitte?«, maulte der Dämon und streckte ängstlich den Kopf aus seinem Versteck. Von dort aus starrte er misstrauisch den Traumfänger an, der in Toppers Hand baumelte.
Dieses Kultobjekt war kleiner als die, die man sonst auf Jahrmärkten oder irgendwelchen Pseudo-Zauberläden kaufen konnte. Er war in etwa so gross, wie eine Puderdose. Ansonsten sah er jedoch sehr normal aus. Der Ring war aus einem gebogenen Ast, zusammengebunden mit weissen Fäden. Im Inneren hatte jemand ein Netzt gesponnen, das so verworren war, dass man Kopfschmerzen bekam, wenn man zu lange hinsah. Perlen, glänzende Steinchen und Drähte waren darin eingeflochten oder hingen zusammen mit schimmernden Federn an dem Traumfänger herab. Ein langes Lederband war am oberen Teil befestigt, wie bei einem Anhänger. Er war gewöhnlich, besass jedoch trotzdem eine vollkommene, natürliche, einfach schlichte Schönheit.
»... Wehklage...«
»... Von...«
»... Grün...«
»Keine unnötige magische Belastung, bitte!«, murmelte Hook und trat zur Seite.
»Das«, meinte der Hutmacher und deutete auf den Traumfänger, »ist kein magisches Objekt. Das ist einfach nur ein ganz normaler Traumfänger. Ohne jegliche Magie...«
Jeremy Topper kam auf Sabrina zu.
»... Der...«
»... grosser...«
»... Wegen...«
Er beugte sich über sie und lächelte.
»... zu...«
»... laut...«
»... Gefühl...«
Jeremy legte vorsichtig eine Hand in ihren Nacken, um ihren Kopf anzuheben.
»... Teufel...«
»... durch...«
»... ihr...«
»... Warum...«
»... Durst...«
»... zerschmettert...«
Sabrina riss den Kopf zurück und drückte das blonde Haar zurück in das weiche Kissen. Die fremden Gedanken bäumten sich auf, türmten sich an und kämpften mit ihrem Geist. Als würden sie verhindern wollen, dass dieser Traumfänger mit ihr in Berührung kamen.
»... niemals...«
»... Ende...«
»... findet...«
»... wirbelte...«
»... Hatte...«
»... Seine...«
»... trübt...«
»... Vorhang...«
Der Hutmacher zog seufzend seine Hand zurück, drehte sich zu Falk um und meinte: »Halte ihren Kopf fest. Diese Gabe, die Telepathie, sie ist ein Teil von ihr. Es wehrt sich dagegen. Es ist wie ein Schutzmechanismus, den Sabrina nicht kontrollieren kann. Pirat du bist stark. Halte ihren Kopf fest!«
Falk schüttelte den Kopf. »Ich werde niemals Gewalt gegen sie anwenden!«
Jeremy stöhnte: »Bei allen Himmeln! Es gibt nichts Schlimmeres als einen verliebten Piraten! Narr, willst du, dass sie wieder gesund wird? Oder stehst du drauf, wenn den Frauen das pürierte Hirn aus der Nase läuft?«
Erst sah es aus, als würde Falk den Hutmacher in der Luft zerreissen wollen, dann schnaubte er und biss die Zähne zusammen. Sein Blick wurde entschlossen und er nickte.
»Gut«, meinte Jeremy Topper.
Falk trat auf sie zu, setzte sich auf das Bett, hob ihren Kopf an. Ganz vorsichtig darauf achtend, sie mit seinem Haken nicht zu verletzen. Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf die Stirn.
»Bitte versuche, ruhig zu bleiben, denn ich könnte es mir niemals verzeihen, dich zu verletzen. Bleibt ruhig, Prinzessin«, hauchte er und jedes seiner Wörter hinterliess ein Prickeln auf ihrer Haut.
»... Traum...«
»... an...«
»... Denke...«
»... wichtig...«
»... strahlte...«
»... Tochter...«
»... denn...«
Die fremden Gedanken tobten.
»... Stahl...«
»... gesprochen...«
»... Zugang...«
»... derer...«
»... ohne...«
»... mein...«
»... Tode...«
»... zusammenfall...«
»... erhebet...«
Jeremy hob beide Hände. Der Traumfänger baumelte über ihrem Gesicht, so nah, dass die Federn sie fast an der Nasenspitze kitzelten.
»... verschlüsseln...«
»... du...«
»... Elfen...«
»... scharf...«
»... mit...«
»... rot...«
»... Wörter...«
»... im...«
»... Flügel...«
»... hinaus...«
»... schimmer...«
»... slles...«
»... Blut...«
»... Rahmen...«
Sabrina wollte sich winden, wollte um sich schlagen. Wollte nur weg. Weg von dem Schmerz. Weg von all den Gedanken. Weg, weg, weg...
»... Wunde...«
»...Neune...«
»... Klamm...«
»... Von...«
»... Und...«
»... Ich...«
»... Bitte...«
»... Heftig...«
»... Glänzte...«
»... Sonne...«
»... Türe...«
»... Atme...«
»... Erst...«
»... Treue...«
»Festhalten... Gut... Jetzt schnell...«
»... Wegen...«
»... Fauchte...«
»... Wucht...«
»... Unten...«
»... Kontrolle...«
»... Die...«
»...Sinne...«
»... Doch...«
»... Mitunter...«
»... Fünf...«
»... Wehen...«
»... Leicht...«
Das Band streifte ihre Wange, dann fiel der Anhänger auf ihre Brust, oh, wenn der Traumfänger doch um Himmelswillen seine Wirkung zeigen würde, wenn er doch bitte funktionieren könnte...
Oh, bitte. Wenn doch nur alles aufhören würde. Der Schmerz, die Gedanken... Wieso konnten sie nicht einfach alle aufhören zu denken! Wieso stand die Zeit nicht einfach still und...
Da blieb sie stehen.
Uhren hielten an.
Keine Zeiger flogen mehr über ihre Ziffernblätter...
Sabrina hatte es tatsächlich ein zweites Mal geschafft...
Die Welten standen still.
Doch es war noch immer laut. Nicht so laut, wie zuvor, als jede einzelne Rebellenseele auf ihren Geist eingeschrien hatte, aber da war noch immer Lärm... Wieso bloss?
Da bemerkte Sabrina, dass sie schrie.
Schrie...
Schnell klappte sie den Mund zu.
Gut, nun war es wirklich still.
»Endlich«, hauchte sie.
Endlich Ruhe...
Vorsichtig langte sie hinter sich. Ihre Finger schlossen sich um Falks Handgelenk und seinen Haken. Sanft bog sie sie auseinander. Erstaunlich, wie leicht das ging. Andererseits... Es war ja kein Wunder, denn die Zeit war ja stehen geblieben, also spielte Kraft keine Rolle...
Schwer atmend lag sie auf der Matratze aus Stroh, dann richtete sie sich auf.
Und es war still. Einfach nur still...
Neben Falk sass der Hutmacher, der nun mit entschlossenem Blick das Kissen anstarrte.
Sabrina fuhr sich über das Gesicht und liess die Hand dann zu dem Anhänger wandern. Ein Traumfänger...
Der Hutmacher hatte behauptet, er wäre kein magisches Objekt. Nur ein Ding aus Holz und Garn, Federn und glitzernden Perlen...
Irgendwie gefiel ihr die Vorstellung, dass dieser einfache Anhänger die Macht hatte, all die Gedanken, die nicht die Ihren waren, einzufangen und von ihr fern zu halten.
»Oder... Oder er kann es doch nicht... Vielleicht ist es ja nicht der Traumfänger, der die Gedanken aus meinem Kopf verbannt. Vielleicht habe ich ja doch nur meine Ruhe, weil die Zeit stehen geblieben ist...«, murmelte Sabrina vor sich hin.
Erschöpft sah sie aus dem Fenster. Die Vögel hingen in der Luft. Erstarrt, leblos wie ein Stein.
Sie drehte den Kopf und betrachtete den Piraten.
Das Gesicht hatte er vor Sorge verzerrt. Oh, wenn er doch nur wüsste, was er ihr gerade für einen Gefallen getan hatte. Gewalt hatte er ihr kaum angetan. Nein, er hatte sie festgehalten, damit sie diesen Schmerz loswerden konnte.
Der Schmerz...
Würde er zurückkehren, wenn die Zeit weiter lief? Würde der Traumfänger die Gedanken von ihr fern halten? Oh, bitte, bitte!
Als der Hutmacher ihr den Traumfänger um den Hals gelegt hatte, in diesem Moment war die Spannung, der Schmerz, die Angst, alles war zu viel geworden und... Nun, sie hatte die Zeit angehalten. Das zweite Mal... Anscheinend musste sie nur mit genug Willenskraft daran denken und es geschah. Ob es wohl auch genauso funktionierte, wenn sie es rückgängig machen wollte?
»Oh ihr Götter, die ihr in allen Himmeln lebt, bitte, lasst Jeremy Topper Recht haben und den Traumfänger Wirkung tun...«
Dann schloss sie die Augen und dachte mit ganzer Kraft, dass die Zeit wieder laufen solle.

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