Kapitel 41 - Spiel der Könige

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~Mile~

Stufen.
Stufen.
Stufen.
»Dreihundertdreizehn, dreihundertvierzehn, dreihundertfünfzehn...«
Der Kater schleppte sich vor ihm die Treppe hoch. Sein Schwanz schleifte über den Marmor. Katmo zählte jede Stufe, obwohl ihm beinahe die Puste aus zu gehen schien.
Auch Red lief der Schweiss über das feine Gesicht. Sie hatte sogar ihren roten Umhang abgezogen, um sich die Hitze vom Halse zu halten.
Mile schwitzte nicht. Sein Körper brauchte keine Klimaanlage, nein, die Wärme machte ihm nichts aus. Viel mehr machten ihm seine Muskeln zu schaffen, die schmerzten und ihn beinahe hörbar anzuflehen schienen, doch endlich eine gottverdammte Pause zu machen!
»Wie... Wie lange noch?«, keuchte Red, und fächerte sich mit der Hand Luft zu.
/Mile kniff die Augen zu und lauschte.
»Ich denke, es wird noch eine Weile gehen...«, schätzte er.
Der Rattenfänger spielte weiter auf seiner Flöte und die Musik war nun deutlicher zu hören, doch weder Red, noch Katmo konnten sie vernehmen.
»Ich hasse diesen Turm!«, jammerte der Kater und schlug sich die Pfoten vor das Näschen.
»Psst! Kater!«, zischte da Red auf einmal und blieb stehen.
Stirnrunzelnd drehte sich Mile zu der Roten um und fragte nach Luft schnappend: »Ist was... Ist was, Red? Kannst du es hören?«
Rotkäppchens Augen weiteten sich.
»Katmo, wir können nicht weiter! Wir müssen sofort umkehren!«
»Was?!«, zischten Mile und der Kater gleichzeitig.
Red nickte und erklärte: »Diese Musik. Könnt ihr das nicht spüren?«
Der Kater zuckte mit den Schultern und lauschte. Schliesslich meinte er verträumt: »Diese Melodie ist wirklich wunderschön...«
»So wunderschön, dass du dich in ihr verlieren könntest?«, hakte Red weiter nach.
Katmo blinzelte verwirrt.
»Ja... Vielleicht schon... Also... Wie meint Ihr das, Miss Rouge?«
Red schüttelte frustriert den Kopf.
»Wie, glaubst du, hat dieser Feivel es geschafft, all diese Ratten und Kinder zu beeinflussen? Er spielt auf seiner Flöte und im nächsten Moment weisst du nicht mehr, wo oben und unten ist!«
»Der Kater sieht doch immer aus, als wäre er meschugge...«, scherzte Mile, der nicht ganz verstand, auf was seine Gefährtin hinaus wollte.
Red verdrehte die Augen.
»Mile, das ist nicht witzig! Wenn wir weiter den Turm hinauf steigen, wird die Musik immer deutlicher. Dieser Rattenfänger kann uns mit seiner Musik gefügig machen, verstehst du nicht? Wenn wir weitergehen... Ich kann nicht garantieren, dass ich dir nicht plötzlich versuche, den Schädel ein zu schlagen!«
Er schüttelte den Kopf.
»Die Musik ist schön, ja, aber ich spüre nichts. Da beeinflusst mich gar nichts!«, meinte er schulterzuckend.
»Aber ich, Mile. Und Katmo auch. Sieh mal, der sieht schon total weggetreten aus. Das fühlt sich an, als würde mich etwas rufen. Ich solle weitergehen und so... Mile, ich sage dir, das ist gefährlich. Ich weiss nicht, wieso du das nicht spürst, du hörst diese Musik ja sogar schon länger als wir. Vielleicht, weil du ein Herrscher und damit mächtiger als dieser Feivel bist. Aber Katmo und ich müssen hier weg. Es tut mir Leid Mile, aber es ist zu deiner eigenen Sicherheit!«
Red sprang die nächsten Stufen hinauf und packte den Kater am Nacken. Wie ein nasser Sack baumelte er in ihrer Hand, mit dem Gesichtsausdruck, der an einen bekifften Kugelfisch erinnerte.
Vor ihm blieb die Rote stehen. Sie versuchte, ihre Besorgnis zu verbergen, doch es gelang ihr nicht.
»Schaffst du das?«, fragte sie.
»Ich muss...«
Red drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.
»Er ist nur ein kleiner, flötespielender Verbrecher. Du bist der Lichterlord. Nutze, wer du bist.«
Er sah ihr nach, als sie die Wendeltreppe hinunterraste.
Weg von Feivel.
Weg von der Musik.
Weg von ihm.
Nun musste er es alleine schaffen.
»Auf in den Kampf!«, knurrte er und stapfte weiter.
Immer weiter.
Immer höher.
Stufe, um Stufe, um Stufe...


~Sabrina~

»Den Korken drauf und alles war vorbei. Weg war der Geist, doch er hatte Animo mit sich gerissen.
Ich hatte die Flasche an mich genommen und sie an meine Brust gepresst, da ich Angst gehabt hatte, zu stolpern und somit die Flasche zu zerbrechen. Meine Knie waren so weich gewesen, so dass ich das Gefühl gehabt hatte, sie müssten schmelzen.
Als ich wieder bei den Treppen Dryadres angekommen war, war ich schrecklich erschöpft gewesen. Ich hatte sofort meine Mutter aufgesucht.«
Bree hatte tatsächlich ihren Bruder in dieser Flasche eingesperrt.
Sabrina konnte sich nicht vorstellen, eine solche Entscheidung treffen zu müssen.
Mile retten und somit einen tollwütigen Geist auf die Welt loslassen oder ihn für immer verlieren und so tausende von Leben zu retten...
Bei allem, was sie mit Mile erlebt und durchgestanden hatte... Nein, sie würde bestimmt immer Mile wählen. Sie konnte nicht anders. Er war ihr Bruder, ihr bester Freund... Ohne ihn war sie nicht vollständig!
»Mutter hat mir niemals vergeben. Animo war ihr liebstes Kind. Mich hatte sie nie so geliebt, was sicher auch an meinen Augen liegt. Perfektheit hat bei uns Elfen einfach einen unglaublichen Stellenwert. Seit diesem Tag nenne ich mich Bree tria Wendriel. Wendriel. Wanderin.«, murmelte Bree.
Moment. So ging die Geschichte aus?!
»Sie hat dir nicht verziehen? Aber... Das war doch ein Unfall! Und was geschah mit Animo? Wo ist er? Lebt er noch?«, fragte Sabrina aufgebracht.
Brees Mimik wurde starr.
Tja, typisch Sabrina. Einfühlsam wie ein tanzender Elefant im Flugzeug...
»Elfen können unbegrenzt lange leben. Ein Menschliches ist für uns im Vergleich die Dauer eines Wimpernschlags. Wenn man lebt, so lange, dass damit Zeiten durchgestanden werden, die so lange vergangen sind, dass niemand sich mehr an sie erinnern mag, dann ist die Gnade der Verzeihung etwas, das sich verdient werden muss. Meine Mutter vergibt nicht.
Animo... Nun, ich weiss nicht, ob er noch lebt. Diese Flasche zu öffnen, grenzte an Selbstmord. Darum brachte man sie dorthin, wo alle bösartigen Geister, die den Weg ins Reich der Toten nicht finden können, untergebracht werden.«
Sabrina horchte auf. Ein Lager für böse Geister? Davon hörte sie nun zum ersten Mal.
»Und was ist das für ein Ort?«, fragte sie neugierig.
Anscheinend hatte der Elefant im Flugzeug nun beschlossen, eine kleine Strip-Show zwischen Sitzplatz zwanzig und vierundzwanzig hinzulegen...
Bree kniff die Augen zusammen, als sie scharf nachdachte.
»Ich weiss es nicht. Ich hatte den Namen des Ortes einst gehört, als ich meine Mutter belauschte. Doch er ist mir entfallen. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass dieses Geisterlager auf einer Insel liegt...«
Sabrina biss sich auf die Lippe.
»Und es gibt keine Möglichkeit, deinen Bruder zu retten? «, fragte sie betroffen.
Bree schüttelte den Kopf und meinte: »Dafür müsste man diese Flasche öffnen. Falls Animo überhaupt noch lebt, was ich bezweifle, da er mit einem ziemlich bösartigen Geist eingesperrt war, müsste man auch den Geist freilassen. Und Geister kann man nicht töten. Was tot ist, stirbt nicht. Der Geist muss das Tor zur Unterwelt finden, nur dann verschwindet er aus dieser Welt.«
»Ich weiss, wo dieser Ort liegt...«
Bree und Sabrina zuckten zusammen.
»Wendy?«
Tatsächlich! Da stand sie.
Wendy, in ihrem blauen Kleid und den braunen Locken.
Doch sie war nicht alleine. Hinter ihr stand eine weitere Person.
Tatze, der älteste der verlorenen Jungs. Etwas unbehaglich strich er sich die blonden Locken aus dem Gesicht.
Sabrina sprang auf.
»Wo wart ihr? Wendy, ich hatte dich überall gesucht!«
Wendy sah zu Tatze auf. Ihr Blick war so unsicher, wie die ersten Schritte eines jungen Rehs.
Tatze zog sie an sich.
»Oh...«, entfuhr es ihr, als sie verstand.
Tatze und Wendy.
Kein Wunder, dass Wendy so ausgetickt war, als Peter sie geküsst hatte!
Es musste schrecklich für sie sein...
Jedes Mal, wenn sie Peter von sich stiess, jedes Mal, wenn sie ihn nicht an sich heran liess, jedes Mal, jedes Mal brach sie sein Herz aufs Neue.
Peter versuchte immer wieder, sich Wendy zu nähern, jedoch ohne zu wissen, dass er sowieso keine Chance bei ihr hatte.
»Aber wieso?«, murmelte Sabrina leise.
Wendy wurde rot wie eine Tomate. Tatze dagegen blickte grimmig.
»Peter würde mich hassen. Es würde ihn vernichten«, knurrte Tatze.
Andauernd dieses Drama. Es war wie eine riesige Suppe. Eine Suppe aus Eiversucht, Angst, Wut, Hass und Menschen, in deren Wortschatz "Vergebung" nicht vorkam.
Falk konnte sich selbst nicht vergeben. Peter vergab ihm ebenso nicht. Wendy schien Peter nicht vergeben zu können. Brees Mutter konnte ihr nicht vergeben.
Was zur Hölle sollte das?!
Sabrina lächelte die Beiden an.
»Von mir wird niemand etwas erfahren!«, versprach sie und lief auf Wendy zu. Sie umarmte das Mädchen. »Ich bin nur froh, dass es dir gut geht!«
»Nichts passiert. Ich war nur sehr durcheinander...«, murmelte Wendy beschwichtigend.
»Wo?«
Sabrina liess sie los und drehte sich zu der Elfe um.
Wie grausam von Brees Mutter, dass sie ihrer eigenen Tochter nicht verraten hatte, wo ihr Bruder, falls er noch lebte, versteckt war...
Wendy schaltete nicht so schnell. Da sie noch immer etwas durch den Wind war, fragte sie nur verwirrt: »Was? Wie, wo?«
»Wo? Wo ist das Lager der Geister?«, fragte Bree nachdrücklich. Sie trat näher an Wendy heran.
»Man nennt ihn den Geisterhort. Ich habe ihn niemals gesehen, diesen Ort. Doch Peter hatte ihn einst erwähnt. Auch er kannte ihn nur vom Hörensagen. Der Geisterhort... Er liegt auf der Insel.«
»Auf welcher Insel?«, fragte Bree weiter, die nach dem Wissen griff, wie ein Ertrinkender nach einem rettendem Stück Holz.
Wendy blinzelte.
»Nimmerland.«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt