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Der nächste Tag konnte nicht schnell genug vorübergehen. Ich freute mich so sehr auf den Abend, wie ein kleines Kind sich auf Weihnachten freut. Ich würde wirklich lernen, einen Patronus heraufzubeschwören. Ich hielt es für besser, den anderen erst einmal nichts zu erzählen, ich wollte nicht, dass jemand dachte, ich würde bevorzugt werden. Daher verließ ich abends den Gemeinschaftsraum mit der Begründung, noch einmal kurz in die Bibliothek gehen zu wollen.

„Guten Abend, Professor", begrüßte ich ihn erfreut, als er mir die Tür öffnete.
„Guten Abend, Violet. Komm herein, du dürftest dich ja inzwischen bestens hier drinnen auskennen", sagte er scherzend. „Darf ich dir eine heiße Schokolade anbieten?"
„Gerne."
Ich schaute in einen der hohen Glasschränke hinein und betrachtete die Gegenstände darin.
Professor Lupin stelle sich mit zwei dampfenden roten Bechern neben mich, einen reichte er mir.
„Sie haben wirklich ein interessantes Büro", merkte ich an, ehe ich einen großen Schluck des süßen, warmem Getränkes zu mir nahm.
„Ich hätte nie gedacht, dass es mal mir gehören würde, als ich hier Schüler war."
„Sie gingen auch auf diese Schule?"
„Natürlich. Es gibt keine bessere Schule als Hogwarts", antwortete er lächelnd.
„In welchem Haus waren Sie?" fragte ich interessiert.
„Gryffindor. Manchmal vermisse ich es, im Gemeinschaftsraum vor dem Kamin zu sitzen."
„Das wird mir sicherlich auch irgendwann fehlen."
„Vielleicht kehrst du eines Tages auch hierhin zurück."
„Ich glaube eher nicht", sagte ich lachend.
„Wollen wir beginnen?" fragte er.
„Ja, gerne."
„Setz dich." Er deutete auf einen der Sessel. „Es gibt ein paar Dinge, die ich dir vorab gern erzählen würde. Der Zauber wird durch die Kraft einer glücklichen Erinnerung erzeugt. Eine richtige Gestalt nimmt ein Patronus nur dann an, wenn man es schafft, eine sehr starke glückliche Erinnerung nachzuempfinden. Steht zu wenig von der positiven Kraft hinter dem Zauberspruch, so entsteigt dem Zauberstab höchstens ein gestaltloser, leuchtender Nebel. Vorübergehend kann dieser sich, durchaus auch schützend, vor die Bedrohung stellen. Einzelne Angreifer können durch diesen Schutznebel zurückgedrängt werden. Er löst sich jedoch nach kurzer Zeit wieder auf, nur ein gestaltlicher Patronus ist stark genug, ein oder mehrere bedrohliche Wesen gezielt zu verjagen."
Gespannt lauschte ich seinen Worten.
„Was ist das für eine Gestalt?" fragte ich.
„Das ist ganz unterschiedlich. Der Patronus erscheint in Gestalt eines Tieres, ganz individuell."
„Was ist Ihr Patronus?"
„Ein Wolf."
„Ich mag Wölfe."
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
„Nun gut. Zunächst solltest du also an eine Erinnerung denken, die starke positive Gefühle in dir hervorruft. Etwas, dass dir Kraft und deinem Patronus Energie verleiht."
Gar nicht so einfach, dachte ich. In meinem Kopf spulte ich eine Erinnerung nach der anderen ab, doch die meisten waren nicht wirklich kraftvoll. Oder nicht wirklich positiv. Wenn ich an mein vergangenes Leben dachte, dann war da stets die Erinnerung daran, dass ich in jungen Jahren meine Eltern verlor. Dass ich ohne sie aufwachsen musste und dass ich in den Ferien in Hogwarts blieben musste, da ich niemanden hatte, zu dem ich konnte.
„Mir fällt nichts ein, Professor", sagte ich nach einer Weile.
„Lass die Zeit, denk gründlich nach."
Ich dachte weiter nach, spielte weitere unbedeutende Erinnerungen in meinem Kopf ab. Wann war ich das letzte mal überwältigend glücklich gewesen? War ich es jemals?
„Professor, ich... Mir fällt wirklich nichts ein, was eine solche Energie hervorbringen könnte."
Mitleidig sah er mich an. Das wollte ich nicht erzielen.
„Es muss etwas geben, Violet. Geh tief in dich."
Ich dachte daran, wie ich meinen Hogwartsbrief erhielt und endlich einen Lichtblick in meinem Leben sah, aus dem Weisenhaus entkommen zu können. Ich dachte an den Moment, an dem ich Hogwarts das erste Mal sah, an dem mich das erste Mal nach einer langen Zeit wieder ein heimisches Gefühl überkam. Ein Gefühl von Geborgenheit. Von Sicherheit. Von Hoffnung.
„Ich glaube, ich habe etwas."
„Lass es uns versuchen."

Wir gingen zu dem großen Schrank, in welchem der Irrwicht sich befand.
„Der Irrwicht wird die Gestalt eines Dementors haben. Auch wenn es kein richtiger Dementor ist, ist er äußerst gefährlich, verstehst du mich?" fragte er eindringlich.
Ich nickte.
„Gut, hol deinen Zauberstab raus. Sobald ich ihn herausgelassen habe, richtest du deinen Stab auf ihn, sammelst all die Energie deiner Erinnerung und sprichst 'Expecto Patronum'. Noch irgendwelche Fragen?"
„Wenn ich es nicht schaffe?"
„Ich stehe direkt neben dir, mach dir darum keine Sorgen. Bereit?"
„Ja."
Fest entschlossen dachte ich an all diese Gefühle. Fest entschlossen, erhob ich meinen Zauberstab, als Professor Lupin die Tür öffnete und ein Dementor herauskam. Doch plötzlich überkam mich eine solche Kälte, die mir die eine unangenehme Gänsehaut verpassten. Diese Kälte verdrängte all die Geborgenheit und Sicherheit. Sie zerstörte all die Hoffnung. Dennoch konzentrierte ich mich auf die Erinnerung.
„Expecto Patronum", rief ich.
Doch nichts geschah.
„Expecto Patronum!" rief ich noch einmal, nun etwas lauter, als würde die Erhebung meiner Stimme dem Spruch mehr Kraft verleihen.
Doch wieder geschah nichts, sodass Professor Lupin einschritt und den Dementor mit seinem Patronus zurück in den Schrank beförderte.
„Nun schau nicht so. Es ist nicht unüblich, dass es beim ersten Mal nicht klappt, das ist nichts verwunderliches."
„Aber es ist absolut nichts passiert. Nicht mal ein kleiner Funken kam aus meinem Zauberspruch" sagte ich enttäuscht.
"Wir werden weiter üben, bis du es kannst. Für heute sollten wir es aber dabei belassen."
Ich seufzte.
„In Ordnung.Vielen Dank, Professor."
„Nichts zu danken. Komm einfach morgen Abend wieder vorbei."

Das tat ich. Ich kam am nächsten Abend vorbei, genau wie am übernächsten und den darauffolgenden. Ich erschien eine Woche lang jeden Abend bei ihm. Noch immer schaffte ich es nicht, einen Patronus heraufzubeschwören.

„Wie lange haben sie gebraucht, bis sie es konnten?" fragte ich ihn.
„Das spielt doch gar keine Rolle."
„Ich möchte es wissen."
„Zwei Tage."
„Und ich sitze seit einer Woche daran und schaffe es nicht, auch nur irgendetwas aus meinem Zauberstab zu bringen. Das alles ist sinnlos."
Ich war wirklich kurz davor, aufzugeben. Hätte sich bisher wenigstens irgendetwas getan, das ein wenig Hoffnung schafft. Doch ich war noch immer so weit, wie am ersten Tag.
„Darf ich dich nach deiner Erinnerung fragen, die du dir ausgesucht hast?"
„Ja natürlich. Ich denke daran, wie ich meinen Hogwartsbrief bekam und das Schloss das erste mal sah."
Er sah mich an, als ob er überlegen würde.
„Das ist nicht stark genug", stellte er fest.
„Das ist das stärkste, das ich habe. Dieser Moment hat mein Leben verändert."
„Der Moment hat das Leben aller hier verändert. Du brauchst etwas anderes, etwas individuelleres. Etwas mit noch mehr Energie und Kraft."
„Das ist ja das Problem, Professor. Alle kraftvollen und energiereichen Erinnerungen die ich habe, sind negativ."
Das klang so unglaublich bemitleidenswert. Und mit genau diesem Mitleid sah Lupin mich an.
„Der Irrwicht tauchte in deiner Gestalt auf, weil du Angst vor dir selbst hast. Vor dem, was in dir vorgeht, vor deinen Gefühlen und Gedanken. Könnte ich damit richtig liegen?" sprach er in einem ruhigen, aber ernsten Ton.
Zögernd nickte ich. Er schwieg einen langen Moment, ehe er fortfuhr.
„Lass es uns auf einem anderen Weg probieren. Denk nicht an vergangenen Erinnerungen. Denk an deinen größten Traum. Denk an jedes kleinste Detail davon und stell dir vor, er würde in diesem Moment wahr werden."
„Sie glauben, das funktioniert? Ein Gedanke an etwas, das nicht passiert ist und von dem ich nicht weiß, ob es jemals passieren wird?" fragte ich misstrauisch.
„Träume können einem Menschen viel Kraft verleihen, allein schon der Gedanke daran. Selbst wenn wir sie niemals erfüllen sollten und sie auf Ewig Träume bleiben, so macht uns das Streben nach ihnen und das Gedenken an sie glücklich."
„In Ordnung, ich versuchs."

Meinen größten Traum zu finden fiel mir weitaus einfacher, als eine positive Erinnerung aus meiner Vergangenheit herauszufiltern. Mein Traum war seit Jahren derselbe. Schon immer interessierte ich mich für Drachen. Ich bewunderte diese Geschöpfe zutiefst und konnte mir nichts schöneres vorstellen, als später einmal mit ihnen zu arbeiten, vielleicht als Drachenwärterin. Man sagte mir, mein Vater arbeitete ebenfalls als ein solcher. Wenn ich mich mit Drachen beschäftigte, dann fühlte ich mich ein Stück weit mit meinem Vater verbunden, selbst wenn ich nie die Chance hatte ihn wirklich kennenzulernen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als eines Tages vor einem solchen Wesen stehen, vielleicht sogar auf ihm fliegen zu können. Die Vorstellung davon, auf einem so mächtigen und gefährlichen Wesen zu fliegen klang so absurd, doch es war ein Traum und dort gibt es keine Absurdität, richtig?

Lupin behielt recht. Allein der Gedanke an meinen Traum machte mich glücklich, auch wenn er in so ferner Zukunft lag, sollte er dort überhaupt einen Platz haben. Doch das Bild von mir auf einem Drachen bereitete mir ein gutes Gefühl.
„Bist du so weit?" fragte Lupin mich.
„Ja. Bin ich."
„Dann mal los."
Er öffnete den Schrank und ein Dementor kam heraus. Ich atmete tief ein und aus. Noch immer sah ich das Bild klar vor meinen Augen. Das Bild, das mich Hoffnung für eine erfüllte Zukunft und zugleich Verbundenheit zu meinem Vater fühlen ließ.
„Expecto Patronum!" rief ich entschlossen.
Ein helles Licht kam aus meinem Zauberstab, das den Raum erhellte und den Dementor zurück in den Schrank befördert.
„Du hast es geschafft!" lobte Professor Lupin mich stolz.
Ich war überglücklich. So glücklich, dass ich ihn vor Freude stürmisch umarmte.
„Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen so sehr."
„Das hast ganz allein du geschafft. Ich habe dir lediglich die Richtung gezeigt."
Ich musste mir vor Freude die Tränen zurückhalten. Ich hätte es tatsächlich geschafft. Ich hatte einen Patronus heraufbeschworen, genau dann, als ich aufgegeben hatte es jemals zu schaffen.
Mein Patronus war ein Drache.

„Ich sollte mich wohl langsam auf den Weg machen", stellte ich fest.
„Oder du bleibst noch etwas. Ich könnte uns noch eine heiße Schokolade machen, wie wärs?"
Ich überlegte kurz. Es musste schon ziemlich spät sein, immerhin kam ich erst gegen Abend zu ihm. Allerdings war gegen eine Tasse heiße Schokolade nie etwas einzuwenden.
„Das hört sich sehr gut an."

Salvation -  Remus Lupinحيث تعيش القصص. اكتشف الآن