Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut

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Mile klappte das Buch zu.
Er hatte nun schon so viel Erstaunliches erfahren. Über ihn, seine Schwester, ihre Vorfahren, diese Welt...
Und das Buch hatte er noch lange nicht durchgelesen.
Wieso wusste niemand, was mit dem irren Kupferkönig und der Glaskaiserin passiert war? Warum hatte niemand nach ihnen gesucht? Lebten sie noch?
Mile schob seine Fragen bei Seite und das Buch unter sein Kopfkissen. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen.
Würde er jetzt anfangen zu träumen, würde Sabrina - die Herrscherin über die Träume und Gedanken - ihn sehen können?
Vielleicht...


~Sabrina~

Wenn man einmal einen Hass, einen furchtbaren, brennenden, unendlichen Hass, den wahren Hass gespürt hat, kann man jemals derselbe bleiben?

Kann man dieses dunkelste aller Gefühle jemals wieder loswerden?
Oder zerstört es einen?

»Medusa!«, keuchte Sabrina.
»Hexe!«, rief Hook und hustete Wasser. Trotzdem drehte er sich zu Medusa um und starrte sie mit solcher Abscheu, solchem Hass an, dass Sabrina erschrak.
»Seid gegrüsst, Captain«, lachte die Gorgone.
Ihre Stimme klang wie die einer Schlange. Glatt und zischend.
Medusas Haare wanden sich. Die dunkelgrünen Schuppen der Schlangen glitzerten.
Medusa wäre eine Schönheit. Ihre Haut hatte einen feinen Oliv-Tan. Sie war sehr schlank und kurvenreich gebaut. Ihre Beine waren lang und feminin. Ihr schlanker Hals lag zwischen geraden Schultern. Die Bewegungen ihres Körpers hatten eine solche Eleganz und Grazie wie das Meer selbst. Sie trug eine Rüstung aus Bronze, die an die des alten Griechenlands erinnerte. Vor allem der Brustpanzer war wunderschön verziert.
Ihr Gesicht war schmal. Sie hatte hohe Wangenknochen, volle silber-grüne Lippen und eine lange, flache Nase. Doch ihre Haare waren Nest aus sich windenden und schnappenden Schlangen, ihre Zähne waren die eines Haifischs, hinter ihren Ohren hatte sie Kiemen, zwischen den Fingern spannten Schwimmhäute und ihre Augen, die wunderschönen, leuchtend grüne Augen... waren gestohlen...
Das Wasser hatte sich zu einer Art Wassersäule geformt und sie in die Höhe gehoben. Ein Kind Klyuss'... Wie konnte diese Meeresgöttin nur ein Wesen wie Medusa unterstützen?
»Wieso bist du gekommen? Wir hatten eine Abmachung! Ich bewahre deinen Schlüssel für dich auf und du wirst niemals zurückkehren!«, schrie Hook und zog ein langes Messer aus seinem Stiefel.
»Ich bin hier, weil man mich gerufen hat, kleiner Mann. Ruft mich ein Mädchen auf hoher See um Hilfe, erwartet sie keine Jungfrau des Ozeans. Nein. Bittet das Mädchen um Klyuss' Hilfe, so komme ich. Ausserdem ist unser Pakt nichtig. Pirat, du hast dein Wort nicht halten können, nicht wahr? Dein Mädchen, die kleine Herrscherin hat den Schlüssel!«
»Ich wollte dich nicht rufen!«, rief Sabrina. So unauffällig wie sie konnte, langte sie langsam hinter sich, um Ellon'da und einen Pfeil aus ihrem Kescher zu ziehen.
»Wirst verletzen du mein Fleisch, wird dies haben einen Preis!«, zischte Medusa. Geräuschvoll knallte das Wasser gegen die Klippen und Medusas Schlangenhaare schnappten in Sabrinas Richtung.
Wütend liess Sabrina die Hände sinken. Stattdessen versuchte sie sich auf die Gedanken der Seehexe zu konzertieren.
»Verflucht... Kann nicht... Dumme Menschlein...«
Medusas Gedanken waren schwer zu lesen, denn sie waren so flink wie das Wasser und so glatt wie eine Schlange. Trotzdem hatte Sabrina etwas aufschnappen können und was sie gehört hatte, liess sie zusammenzucken.
»Verflucht?«, fragte Sabrina.
Medusa wirkte keinen Moment erstaunt oder verwirrt.
»Ein Kratzer und es wird Folgen haben. Je schlimmer euer Vergehen, desto schrecklicher wird eure Bestrafung sein!«, rief die Meereshexe mit einem bösartigen Haifischgrinsen.
»Was willst du. Sprich, oder ich schwöre ich werde dich töten, ich scheisse auf deine Verwünschungen und Flüche!«, knurrte Hook.
»Falk. Was ist, wenn sie uns helfen könnte?«, zischte Sabrina. Vielleicht hatte sie gerade einen Geistesblitz...
Hook wandte den Blick nicht von der Gorgone ab.
Er flüsterte: »Nein. Niemals. Als ich das letzte Mal gesehen habe, wie ein Mensch, den ich liebte, einen Pakt mit diesem Monster abgeschossen hat, starb dabei meine Schwester. Ich werde nicht zulassen, dass du den gleichen Fehler machst. Sieh der Hexe doch nur ins Gesicht! Das sind ihre Augen! Die Augen meiner Schwester!«
»Wir brauchen Bluem sėmee. Der blaue Mohn wächst ausschliesslich unter diesen Klippen in Unterwasserhöhlen«, unterbrach sie den Piraten laut.
»Nein!«, brüllte Hook, steckte das Messer in seinen Gürtel und packte sie an den Schulter. »Sabrina! Niemals!«
»Sie kann uns helfen!«
Er schüttelte sie. »Bist du wahnsinnig! Ich habe dir doch erzählt, was mit meiner Schwester geschehen ist!«
Sie riss sich von ihm los. Wieso sah er es nicht ein? Medusa war vielleicht die beste Chance, die sie bekommen würden!
Auf einmal mischte sich Medusa ein: »Wieso nennst du Arielle nicht beim Namen?«
Hook verharrte. »Was?«
Medusa lachte ihr zischendes Schlangenlachen. »Was denkt Ihr, Herrscherin?«
Sabrina presste die Lippen aufeinander und schwieg.
»Könnt Ihr es Euch nicht denken? Weil er sich für ihren Tod verantwortlich fühlt! Er denkt, er hätte sie getötet! Er hat seine Schwester geliebt! Nun, das kann man ihm wahrhaftig nicht vorwerfen, Arielle war ein wunderschönes Kind. Doch unser Pirat hier weiss, hätte er Arielle geliebt wie eine Schwester, wäre sie sicherlich noch am Leben. Doch der dumme Junge hat sich das Herz von ihr stehlen lassen. Arielle hat ihn niemals so geliebt, wie er sie. Nein, Arielle liebte diesen Wassermann, Nöck hiess er glaube ich... Und als unser süsser Pirat das erkannt hat, zersprang ihm das Herz. Er hat Arielle nicht geholfen, weil er zu beschäftigt damit war, die Scherben seines armseligen Herzens aufzusammeln. Darum nennt er sie nicht beim Namen. Arielle, seine Liebe ist tot. Arielle, seine Schwester wäre noch am Leben. Wäre sie. Sie wäre es. Doch sie ist tot. Darum nennt er sie nicht am Namen. Darum nennt er sie nur seine Schwester!«, schrie Medusa.
Hooks Gesichtszüge, gerade noch voller Wut und Verzweiflung, erschlafften. Sie wurden zu einer Maske der Neutralität, wie die einer alten Porzellanpuppe.
Sabrina trat näher an ihn heran und wollte ihn tröstend an der Hand nehmen, doch stattdessen schlossen sich ihre Finger um Metall.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. Der Pirat schwieg. Er sah ihr nur traurig in die Augen.
»Was ist jetzt mit unserem Pakt, Prinzessin? Ihr habt nach mir gerufen, ich bin gekommen. Worauf wartet ihr?«, säuselte Arielles Mörderin.
Sabrina drehte den Kopf.
Energisch rief sie: »Gut. Du hast mich gehört. Blauer Mohn. Und ich will Arielles Augen. Du Ehrlose besitzt nicht genug Anstand, ihre Augen zum Rest ihrer Gebeine ins Meer zu versenken, damit sie endlich Ruhe finden kann.«
Die Meereshexe lachte. »Kleines, bist du wirklich so naiv? Alles hat seinen Preis. Alles. Augen für Flossen. Der Tod für das Leben. Der Bruder nahm die Hand, der andre nahm die Schwester. Willst du meinen Preis, kleine Prinzessin?«
»Nein«, hauchte Hook. Sabrina wandte sich von Medusa ab und sah zu ihm auf.
Der Schmerz in seinen Augen zerriss ihr das Herz, doch trotzdem rief sie, ohne sich von dem traurigen Pirat abzuwenden: »Ich habe keine Wahl.«
Hook behielt seine Porzellan-Mimik bei, strich ihr nur über die Wange. »Ich weiss«, flüsterte er und legte seine Hand auf ihre, die noch immer seinen Haken umklammerte.
»Oh, wie ich es liebe, wenn Piraten verliebt sind. Immer ist es das Mädchen. Immer ist sie sein Verhängnis. Denn Klyuss hasst es, wenn ihre Meereskinder, egal ob Pirat, Seemann oder Schiffsbrüchiger, eine andere mehr lieben als sie. Klyuss ist sehr schnell eifersüchtig...«, säuselte Medusa.
Sabrina drehte sich zu der Gorgone um. »Was ist dein Preis?«
Sie klang erstaunlich ruhig, fand Sabrina, von sich selbst überrascht. Dabei hatte sie innerlich schreckliche Angst. Wollte Medusa ihre Augen? So wie bei Arielle?
Bevor Medusa antworten konnte, sah Sabrina es in ihren Gedanken.
Ein Kästchen. Es war aus schwarzem Stein, der mit der filigranen Prägung eines Baumes verziert war. Rubine waren hineinverarbeitet worden, die die Blätter des. Baumes darstellten.
»Ich will die Allmacht-Spieluhr«, kreischte Medusa und ihre Schlangen zischten im Chor.
Eine Spieluhr? Was sollte das?
»Was ist in dieser Spieluhr?«, fragte Sabrina misstrauisch. Irgendetwas war doch faul an der Sache...
»Keine Ahnung. Sie ist verschlossen und geöffnet hat sie noch niemals jemand«, lachte die Seehexe.
»Sie lügt«, schnaubte Hook, der langsam wieder zu sich kam. Seine Wut war verraucht, war einer bedrückenden Trauer gewichen, doch ganz hatte Medusa ihn nicht gebrochen. Sein Hass war noch immer da. »Sie weiss doch ganz genau, was in dieser Spieluhr drin ist, nicht wahr?«, knurrte Hook und trat neben Sabrina.
Medusa lächelte. »Du hast mich erwischt, Pirat. Ich vergass, du warst schon immer ein brillanter Lügen-Erkenner. Blackbeard muss ein grossartiger Lehrer gewesen sein. Wusstest du, dass er schon immer überzeugt war, dass du einer der grössten Piraten aller Zeiten werden würdest? Du hast die See im Blut, Falk James Jones Hook«, rief die Gorgone.
»Was ist in der Spieluhr?«, rief Sabrina. Sie wollte sich nicht von Medusa über den Tisch ziehen lassen. Sie versuchte Medusas Gedanken zu lesen, doch sie bekam nur Fetzen mit.
»... Weiss nicht... Herrscher... Macht...«
Wie eine Schlange wanden sich Medusas Gedanken. Sabrina bekam sie nicht zu fassen, egal wie sehr sie sich konzentrierte...
»Keine Angst, Prinzessin. Die Spieluhr ist verschlossen. Sie wurde noch niemals geöffnet. Und wisst Ihr auch wieso? Der Schlüssel ist verschollen und ohne Schlüssel kann man die Spieluhr nicht öffnen. Es wurde bereits oft versucht, jedoch nie geschafft. Falls also irgendetwas in dieser Spieluhr sein sollte, sagt mir, wie sollte ich etwas damit anfangen können, wenn ich nicht einmal die Büchse öffnen kann?«, fragte sie.
Sabrina musterte die Gorgone. Sie schien die Wahrheit zu sagen...
»Siehst du die Lüge in meinen Augen, junger Pirat?«, schnurrte Medusa und kam näher an ihren Felsen heran.
Mit viel Mühe gelang es Sabrina, dem Instinkt, zurück zu weichen, zu widerstehen, als Medusa auf gleicher Höhe zu ihnen, einen Meter entfernt im Wasser stand.
»Ich kann keine Lügen sehen. Aber ich kann riechen. Ihr stinkt nach Fisch, Gorgone!«, knurrte Hook.
Sabrina bewunderte den Piraten für seinen Mut. Wie gerne hätte sie dieser Meereshexe einmal so richtig die Meinung gegeigt!
»Ihr werdet die Spieluhr im Zeitpalast finden, falls ihr es soweit schafft, aber man soll den Tag bekanntlich nicht vor dem Abend loben...«, knurrte Medusa.
»Wieso hilfst du uns? Ich dachte, du stündest in den Diensten der Dunklen«, fragte Sabrina. Sie spürte, dass irgendetwas faul an der Sache war. Was verbarg die Seehexe?
Medusa schwenkte zu ihr herüber. Auf einmal schwebte das Gesicht der Gorgone so dicht vor ihrem, dass deren Schlangenhaare ihr locker ein Ohr abbeissen hätten können.
»Zweihundertvierzig Jahre hat diese Welt vor Kälte zittern müssen. Was glaubst du, wie es sich nun anfühlt, jetzt, da der Sommer wieder da ist? Und wenn jetzt erneut die Jahreszeit still steht, nur weil du und dein Bruder krepiert seid, dann wird niemand kommen, um die Hitze zu verscheuchen.«
»Dann hole mir den Mohn. Zwanzig Blüten. Du musst sie drei Zentimeter über dem Boden abschneiden. Und wehe dir, du vergisst Arielles Augen. Wobei wir gerade beim Thema sind... Deine eigenen lässt du dann natürlich geschlossen...«, meinte Sabrina kalt. Ihr Herz schlug so heftig wie das eines verängstigten Tieres.
Medusa lächelte. Von nahem waren ihre Zähne noch spitzer...
»Gut. Lasst mir einen Tag Zeit. Ihr werdet Eure Blumen bekommen. Und Eure Augen auch. Ich muss gestehen, ich vermisse es langsam, Wesen zu Stein erstarren zu lassen...«, seufzte Medusa, als spräche sie von einem Hobby, das sie schon lange nicht mehr ausgeübt hatte.
»Dann würde ich vorschlagen, du bringst uns zu unserem Schiff zurück«, knurrte Hook und legte Sabrina eine Hand auf die Schulter.
Die Meereshexe nahm wieder Abstand von ihr und Sabrina atmete auf. Lange hätte sie Medusas Blick nicht mehr standhalten können.
Die Gorgone lachte, was Sabrina gar nicht gefiel.
»Wenn ich euch zu eurem Schiff zurück bringe, wer verspricht mir dann, dass ihr morgen wiederkommt? Oder ob ihr bis morgen einen Weg findet, mich doch irgendwie zu töten. Nein, dieses Risiko werde ich nicht eingehen. Bis morgen. Selbe Zeit und natürlich auch selber Ort...«
»Wie bitte?!«, rief Sabrina.
»Ich wünsche euch beiden eine erholsame Nacht. Träumt süss! Aber bitte, keine Schweinereien auf diesem Felsen!«
Mit diesen Worten sank Medusa zurück in die See und war verschwunden. Ihr Lachen hallte noch lange in Sabrinas Geist nach...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now