One Shots

Panic

Bemüht ruhig öffnete der junge Mann die schwere Tür und trat hinaus aufs Dach. Erst als die Tür mit einem leisen Knall zufiel ging er in die Hocke und rang um Atem, versuchte die Tränen zurück zu halten. Sein Beruf war kein leichter. Mit zitternden Händen zog er das Päckchen Zigaretten aus seiner Jackentasche, zündete sich eine Kippe an und nahm einen tiefen Zug. Wann hatte er das letzte Mal heimlich auf dem Dach geraucht? Es war schon einige Jahre her, damals war er noch Assistenzarzt gewesen. Fast schon sehnsüchtig dachte er an diese Zeit zurück. Damals hatte er die Grausamkeit der Menschen noch nicht gekannt. Langsam setzte sich der Mann, lehnte sich an die kalte Tür. Eine einzelne Träne rollte über seine Wange. Die letzten 3 Stunden hatte er im OP verbracht. Und dennoch hatte er sie nicht retten können. Beim Gedanken an das junge Mädchen drang ein leises Schluchzen aus seiner Kehle. 17 Jahre. Älter war sie nicht geworden. Was genau passiert war wusste er nicht, aber ihre Verletzungen sprachen Bände. Hämatome an Hals und Armen. Sie hatte sich gewehrt. Aber daran war sie nicht gestorben. Es waren die Stichwunden gewesen. Fünf tiefe Wunden, die dieses junge Leben beendet hatten. Ohne es zu bemerken ließ der junge Arzt die Zigarette fallen und legte den Kopf zwischen die Knie. Er versuchte ruhig zu atmen, sich zu beherrschen, aber es gelang ihm nicht. Zu sehr zehrte der Fall an ihm. War es seine Schuld gewesen? Hätte ein besser, ein erfahrenerer Arzt das Mädchen retten können? War er einfach falsch vorgegangen? Selbst wenn er diese Frage beantworten könnte, es war zu spät. Den Blick der Familie würde er nie vergessen. Die schluchzende Mutter, die nicht mal aufstehen konnte. Der Vater, dessen Gesicht zu einer Maske der Trauer erstarrt war, der aber seine eigene Trauer hinten anstellte. So oft hatte er dieses Bild schon gesehen, aber noch nie war es ihm so nahe gegangen. In diesem Moment erklang ein Piepsen. Sein Pager. Er warf einen kurzen Blick auf das Gerät. Ein Autounfall. 3 Opfer. Rasch stand der junge Mann auf und strich seine Kleider glatt. Jetzt war der falsche Zeitpunkt für einen Nervenzusammenbruch. Er atmete noch ein paar Mal tief ein und öffnete die Tür. Diesmal würde er keine Fehler machen.