Schatten der Ruine

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Ihre blutüberströmte Hand umklammerte krampfhaft das in ihren Augen fast schon lächerlich kleine Taschenmesser. Ihre Shorts waren zerrissen als sie mehrfach gestürzt war und ihr ehemals weißes Oberteil hing in Fetzen von ihrem schlanken Körper durchtränkt von ihrem eigenen Blut und dem ihrer Freunde. Ein unterdrücktes Schluchzen drang aus ihrer Kehle, als sie an ihre Freunde dachte. An ihre Freunde, die vor ihren Augen in Stücke gerissen worden waren. Einige Strähnen ihres langes dunkelblondes Haares fielen ihr ins Gesicht, als sie erschrocken den Kopf drehte. Sie hatte etwas gehört. Es kam um sie zu holen. Ein letzter Funke Kampfeswille glomm in ihr auf als sie sich mit zitternden Knien erhob. Die Wunde an ihrer Seite brannte und zwang sie fast wieder auf den Erdboden. Sie war sich im klaren darüber, dass sie sterben würde. Aber so wollte sie nicht abtreten. Fast, aber nur fast glitt ihr das Messer aus der Hand, als sie langsam auf das Dunkel zwischen den Bäumen zuging.
>> 8 Stunden zuvor<<
"Komm schon Sammy! Hier dürfte es klappen." Die laute Stimme riss Samantha aus ihren Tagträumen. "Schon gut Sean. Ich komme ja schon." Widerwillig löste sie ihren Blick von dem Spiel der Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche des Bachs und folgte den anderen. Seit dem Morgengrauen waren sie unterwegs. Seit Wochen hatten sie diesen Ausflug geplant. Ihr Freund Sean hatte auf dem Dachboden seiner Eltern ein Prospekt über dieses alte Naturschutzgebiet gefunden. Angeblich war dort mal eine Militärbasis gewesen war. Sie hatten ihre besten Freunde Sara und Marco eingeladen und waren im Morgengrauen gestartet. Nach etlichen Stunden hatten sie ihr Ziel schließlich erreicht. Aber das Gelände war umzäunt und das Tor war verschlossen. "Davon werden wir uns doch den Ausflug nicht verderben lassen.", hatte Marco lachend gesagt und vorgeschlagen über den Zaun zu klettern. Seit fast zwei Stunden suchten sie nun eine geeignete Stelle und anscheinend hatten die Anderen eine gefunden. Sammy rückte ihren Rucksack zurecht und lief schnell zu den anderen. An einer Stelle des Zauns war der der Stacheldraht gerissen, sodass man halbwegs sicher drüber klettern konnte. Marco und Sara standen bereits grinsend mit den Rucksäcken auf der anderen Seite. "Komm schon Süße.", sagte Sean und machte eine Räuberleiter. Sammy lächelte ihren Freund an und stieg in seine gefalteten Hände. Sean hob sie an, was ihm kaum Schwierigkeiten bereitete. Vorsichtig zog Sammy sich hoch und schwang ihre Beine über den Zaun, dann ließ sie sich fallen. Fast schon routiniert landete sie, wobei sie den Fall abfederte, indem sie leicht in die Knie ging. Sean nahm einige Schritte Anlauf, dann rannte er auf den fast drei Meter hohen Zaun zu, erklomm ihn scheinbar mühelos und sprang auf der anderen Seite runter. Er rollte sich ab und schnellte direkt vor Sammy wieder hoch, wobei ihm sein braunes Haar in die Augen fiel. "Angeber.", meinte sie lachend und küsste ihn. Die beiden hatten sich vor einen halben Jahr während des Jurastudiums kennen gelernt und sich sofort verliebt. Sean war immer gefasst, Sammy hatte ihn noch nie wütend erlebt. Und die Ruhe ihres Freundes wirkte sich auch auf sie selbst aus. Früher war sie schnell an die Decke gegangen, aber seit sie mit dem immer entspannten Surfer zusammen war, regte sie sich nur noch selten auf. "Ihr könnt auch später noch rummachen, lasst uns lieber weitergehen.", sagte Marco. "Ich will wissen ob hier wirklich mal eine Basis war." Sein kurzes blondes Haar stand in spitzen Stacheln ab und er trug ein grellgelbes T-Shirt mit grünen Punkten, was sich entsetzlich mit seiner schokobraunen Haut biss. Sara war fast das komplette Gegenteil. Sie hatte langes schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern, sie trug fast ausschließlich dunkle Kleidung und diverse Piercings zierten ihr Gesicht. Sammy war ziemlich verblüfft gewesen als sie erfahren hatte, dass die beiden Medizin-Studenten seit mehr als zwei Jahren zusammen waren. Die Studentin schob den Gedanken beiseite und wandte sich an die anderen. "Und wo müssen wir lang?" Sara zog ein GPS-Gerät aus ihren Rucksack und drückte einige Tasten. Der Bildschirm glomm auf und ein kleiner blauer Punkt erschien. "Hier sind wir." Kurz darauf leuchtete ein roter Punkt auf. "Und da soll sich die Basis befinden. Etwa fünfzehn Kilometer von hier entfernt. Bei dem Gelände dürften wir dazu mindestens fünf Stunden brauchen." Samantha sah auf ihre Uhr und erwiderte:"Wenn wir da sein wollen bevor es dunkel ist sollten wir los, in fünf Stunden geht die Sonne unter." Die Gruppe schulterte ihre Rucksäcke und sie machten sich auf den Weg. Keiner von ihnen konnte ahnen, dass drei von ihnen noch vor Mitternacht tot sein würden.
>>7 Stunden später<<
Ein leises Fluchen unterbrach die Stille des Waldes. "Gottverdammte Scheiße.", knurrte Marco. "Schon wieder hingeflogen?", fragte Sean lachend. "Leck mich. Im Dunkeln ist das wandern viel schwerer. Die Taschenlampe ist auch für'n Arsch. Dieses Unterholz macht mich fertig. " Sammy unterdrückte ein Lachen und fragte:"Sara, wie weit ist es noch?" Die Studentin wollte es nicht zugeben, aber der stundenlange Marsch durch das dichte Unterholz zehrte an ihren Kräften. Sie hatten länger gebraucht als gedacht, inzwischen war es stockdunkel. Sara sah kurz auf das GPS-Gerät und antwortete:"Wir sind fast da, noch etwa dreihundert Meter. Es ist nur zu dunkel." Diese Nachricht verlieh der Gruppe neue Kräfte. Mit deutlich gehobener Stimmung stapften sie weiter, wichen Baumgruppen aus oder zwängten sich durch. Schließlich stolperten sie auf eine riesige Lichtung. Marco stieß einen leisen Pfiff aus. "Dann stimmen die Gerüchte. Das hier war wirklich mal 'ne Basis." Sammy hob ihre Taschenlampe und versuchte etwas zu erkennen. Da keine Bäume mehr im Weg standen, konnte sie die Taschenlampe voll aufdrehen. Laut Hersteller hatte der Lichtstrahl eine Reichweite von fast zweihundert Metern. Dann sah sie was Marco gemeint hatte. Der Lichtstrahl strich über das Gebäude, das früher mal eine militärische Einrichtung gewesen war. Die Hälfte des Gebäudes war eingestürzt und alles war von Pflanzen überwuchert. "Los, da müssen wir rein.", sagte Sean. Sammy musterte ihren Freund und zog eine Augenbraue hoch. "Ist das dein Ernst?" "Klar, wer weiß was wir finden." Die Studentin seufzte. Wenn Sean sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer ihn umzustimmen. Und auch Marco und Sara schienen darauf zu brennen das Innere der Ruine zu erkunden. "Na gut, gehen wir.", gab sie schließlich nach. Gemeinsam gingen sie auf die Ruine zu. Zwei schwere Eisentüren lagen auf dem Boden, vermutlich waren sie durchgerostet. Das einzige was den Eingang jetzt versperrte waren unzählige Kletterpflanzen. Sean setzte sich eine Kopflampe auf und zog eine Machete aus seinem Rucksack. "Und die packst Du erst jetzt aus?", fauchte Marco. Sean zuckte entschuldigend mit den Schultern und fing an den Eingang frei zu machen. Nach wenigen Minuten hatte er genug Pflanzen beseitigt. Er zwängte sich durch und Sammy folgte ihm. Die Sturheit ihres Freundes ging ihr manchmal ziemlich auf die Nerven. Dennoch war sie neugierig. Sie leuchtete umher und erblickte einen langen Gang, an dessen Seiten sich mehrere Türen befanden. Aber die hintere Hälfte des Ganges war nicht zugänglich, da das Gebäude an dieser Stelle eingestürzt war. Sara und Marco folgten ihnen. "Lasst uns mal sehen was hinter den Türen ist." Sie teilten sich auf und jeder versuchte in einen der anderen Räume zu gelangen. Sammy ging vorsichtig weiter den Gang hinunter, bis sie eine Tür entdeckte, deren untere Hälfte von Trümmern blockiert wurde. Die obere Hälfte jedoch war teilweise heraus gebrochen. Mit einigen Tritten vergrößerte die schlanke Studentin das Loch, sodass sie sich gerade so hindurch zwängen konnte. Der Strahl der Lampe fiel auf mehrere verstaubte Schubladenschränke. Sammy überlegte kurz, dann zog sie an einer der Schubladen. Mit einem fiesen Quietschen glitt sie auf, dann blieb sie stecken. Sammy rüttelte daran, bis sich das Ding endlich löste. Darin befanden sich Akten. Neugierig zog sie eine davon heraus, aber ein Wasserschaden hatte sie unleserlich gemacht. Die nächste halbe Stunde verbrachte sie damit die restlichen Schubladen zu durchsuchen. Die meisten waren unleserlich geworden, nur einzelne Passagen konnte sie im Licht der Taschenlampe entziffern. 'Subjekt 19 hat die Behandlung im Gegensatz zu den anderen Subjekten gut überstanden. Das ursprünglich als Gift geplante Mittel verändert ihn wie erhofft. Verbesserte Reflexe, geschärfte Sinne, gesteigerte Kraft'. In einer anderen Akte stand 'Subjekt 19 zeigt Anzeichen einer Psychose. Seine emotionalen Ausbrüche werden schlimmer.Er verhält sich immer aggressiver. Wir müssen das Experiment abbrechen.' Die restlichen Akten waren absolut unleserlich. Sie wollte das Zimmer gerade verlassen, als ihr ein kleines Buch auffiel, das in der Ecke lag. Wie die Akten hatte ein Wasserschaden die Tinte zum Großteil verwischt und selbst bei den halbwegs lesbaren Sätzen fehlten Wörter. 'Es hat wieder zugeschlagen, wie die bisherigen Male ausschließlich nachts.' 'Wie konnte das passieren?' Dann noch eine Passage über eine Leiche, die von tollwütigen Hunden geschändet worden war und deren überraschendes Verschwinden. Der Rest war vollständig vom Wasser vernichtet. Was zur Hölle war hier geschehen, fragte sich Sammy. Ein markerschütternder Schrei zerfetzte die Stille. Marco! Sammy sprang auf, quetschte sich durch das Loch und sprintete durch den Flur. Im selben Moment stürzten Sean und Sara auf den Gang. "Was ist los?", rief Sara. Kaum hatte sie den Satz beendet öffnete sich eine Tür und Marco stolperte auf die drei zu. Er war blutüberströmt und keuchte:"Wir müssen hier raus!" Seine Stimme war voller Angst und seine braune Haut hatte einen leichten Graustich. "Was ist passiert?", fragte Sean. Er versuchte Marco die Hand beruhigend auf den Arm zu legen, aber dieser wich zurück, packte Sara an der Hand und zog sie mit sich in Richtung Ausgang. Sammy sah ihren Freund verwirrt an, aber Seans Gesichtsausdruck war genauso fragend wie der ihre. Marco hatte sich noch nie so verhalten, er wollte immer möglichst cool wirken. "Folgen wir ihnen." Sammy lief ihrem Freund hinterher und unwillkürlich musste sie an die Akten und das Tagebuch denken. Experimente an Menschen. Und es war schief gelaufen. Sammy fühlte sich wie in einem schlechten Film. Als sie sich durch das Gestrüpp am Eingang gekämpft hatten rief Sean:"Marco, warte!" Der Medizinstudent blieb schwer atmend stehen und sagte:"Ich habe eines der Zimmer durchsucht und wollte das Fenster öffnen um zu lüften. Es hat geklemmt, also musste ich es aufbrechen. Als ich es schließlich aufgemacht hatte, sprang etwas hindurch, griff mich an und verschwand wieder. Es war unglaublich schnell, ich hab nicht mal gesehen was es war. Wir müssen hier weg." "Sicher, dass es nicht einfach nur ein Luchs war?", fragte Sean zweifelnd. "Kein Luchs hinterlässt solche Wunden.", erwiderte Sara mit zittriger Stimme und richtete ihre Taschenlampe auf Marco. Lange Klauen hatten sein T-shirt zerfetzt und tiefe Wunden in seinen Brustkorb geschlagen. Sammy hat solche Wunden schon mal gesehen, als ihr Dad beim Campen von einem Bären angegriffen worden war. Aber hier in der Gegend gab es keine Bären. "Was zur Hölle verursacht solche Wunden?", fragte Sean geschockt. Sammy wollte den anderen gerade von ihrer Entdeckung berichten, als auf dem Wald ein leises Knurren drang. Marco griff in seinen Rucksack und zog eine Pistole. "Jetzt reicht's mir!", rief er. "Was auch immer Du bist, dein Arsch gehört mir!" Bevor wir regieren konnten rannte er auf den Waldrand zu, die Pistole im Anschlag. Der Vollmond beleuchtete die Szene, was sie in Sammy Augen fast schon surreal wirken ließ. Marco hatte nicht mal die Hälfte der Strecke zurück gelegt, als etwas ziemlich großes zwischen den Bäumen hervorschoss. Sammy war wie gelähmt, sie wollte eine Warnung rufen, aber sie konnte sich nicht mal rühren. Die Kreatur sprang auf Marco zu und warf ihn zu Boden, bevor dieser überhaupt reagieren konnte. Marco schrie auf, aber der Schrei stoppte abrupt, als ihm die Kehle herausgerissen wurde. Aus den Augenwinkeln sah Sammy wie Sean seine Machete zog. "Lauft.", sagte er. Seine Stimme riss sie aus der Starre. Sie packte Saras Arm und zog sie in Richtung Ruine. Das schwarzhaarige Mädchen riss sich los, rannte zurück und schrie:"MARCO!" Sean, sich mit der Machete zwischen die Mädchen und die Kreatur gestellt hatte,erschrak und drehte sich halb um. Sofort nutzte das Wesen die Ablenkung, rannte auf allen Vieren auf Sean zu, riss ihn um und schlitzte ihm mit seinen Klauen den Bauch auf. Seans Taschenlampe fiel zu Boden und während die Kreatur ihm die Eingeweide aus dem Körper riss, konnte Sammy zum ersten Mal mehr von ihr sehen als Schemen. Sie hatte kurzes schwarzes Fell und eine kurze Schnauze, befleckt vom Blut ihres Freundes. Ihre Arme endeten in großen Händen mit langen Krallen. Aber das schlimmste waren die Augen. Sie waren tiefrot und voller Hass. Hass auf jedes Lebewesen in ihrer Umgebung. Langsam wich Sammy zurück, während Sara auf die Knie fiel. "Los Sammy. Verschwinde.", flüsterte sie heiser. Tränen flossen über Sammys Wangen, aber sie  blieb stehen. Langsam wanderte ihre Hand in ihre Hosentasche und zog das kleine Taschenmesser hervor. Sean hatte es ihr zum Geburtstag geschenkt. Geübt und unbewusst klappte sie die Klinge auf. Ihr Körper lief wie auf Autopilot. Leise knurrend lief die Kreatur, dieses mutierte Wesen, auf Sara zu. Mit einer fast beiläufigen Bewegung öffnete er ihre Halsschlagader, woraufhin Sara röchelnd zu Boden sank. Dann richtete sich der Werwolf, wie Sammy ihn in Gedanken nannte auf und sah sie an. Er sprang auf sie zu, riss ihr mit seinen Klauen die Seite auf, dann rannte er weg. Sammy wusste, dass er zurück kommen würde um sie auch zu töten. Sie würde sein Nachtisch sein. Immer noch weinend rannte sie zu Sean. Sie presste ihren Körper an seinen, spürte die kalte Nässe seines Blutes, das ihr Shirt durchdrang, erinnerte sich an sein liebevolles Lächeln und ließ ihren Tränen freien Lauf. Nach einigen Minuten stand sie schluchzend auf und hob ihr Messer auf. Sie musste flüchten. Wenn sie es bis zum Auto schaffte konnte sie heim. Aber dafür musste sie bis zum Morgen überleben. Mit dem Messer in der Hand wankte sie in Richtung Ruine, dort würde sie einen sicheren Platz finden. Das dunkelrot glühende Augenpaar das jede ihrer Bewegungen verfolgte sah sie jedoch nicht mehr.

One ShotsWhere stories live. Discover now