Der Mann, der sich aus den Schatten löste, fluchte verhalten.
Wie Cress trug er schwarz, doch im Gegensatz zu ihr hatte er eine altmodische Schrotflinte über der Schulter und ein Schwert an seinem breiten Gürtel.
Er war kein Schatten wie sie, der leise zwischen Häusern umherschlich und Informationen und glitzernde Dinge stahl, ohne je gesehen zu werden. Während man sie leicht übersehen konnte, machten ihn seine Tattoos und sein knallroter Mohawk unverkennbar, auch wenn man sein Septum mit dem winzigen Herz daran dank der pechschwarzen Atemmaske nicht sehen konnte.
Kieran war ein Jäger, einer der die schmutzige Arbeit für den Gönner machte, dem sowohl Cress als auch er selbst diente. Und er war gut in dem, was er tat.

Der brutal aussehende Mann stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett, auf dem Cress stand, und spähte hinaus auf den Schotterstreifen, wo die Kinder immer noch saßen.

„Sie wird kommen, um sich das Mädchen zu holen", vermutete er düster, „Wir haben eine größere Chance, ihn zu bekommen."

Cress wusste, dass er Recht hatte. Wenn die Herzdame hier war, würde sie sich das vielversprechendere Kind schnappen, wenn nicht sogar beide. Sie wiegte den Kopf hin und her.
Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass Nana die Kleine mitnehmen würde. Denn das Leben in der Herzgilde war nicht schön, wie es der Name andeuten könnte. Viel mehr verbargen sich hinter dem Namen die Menschen, die blitzenden Stahl durch schlagende Herzen jagten.
Wenn Nana Rouge diejenige war, die dieses Mädchen entführte, würde dieses zur Mörderin werden und vielleicht zu einer der Assassinen werden, die selbst der Adel fürchtete.

„Hat er gesagt, nach was er sucht?", fragte Cress, während Bewegung in die Straßen unter ihnen kam. Auch Kieran folgte ihrem Blick.
„Nein."

Ihre eigenen Geisterfänger hatten Aufstellung genommen. Solange die Kinder gebadet in die letzten Strahlen der Sonne auf dem Schotterstreifen saßen, etwa hundert Meter von den verfallenen Hochhäusern entfernt, konnte jeder, der den Schutz der Gassen verließ, leicht von einem der Scharfschützen anvisiert werden. Entweder von den Soldaten des Königs, die Tag und Nacht die Mauer bewachten, die die Kronstadt von den Außenbezirken abgrenzte, oder von den Handlangern der anderen Verbrecherfürsten.
Ironischerweise waren die Kinder dort am sichersten, wo die meisten Gewehre auf sie zielten.

Cress hatte den Kopf schief gelegt und lauschte immer noch dem immer wieder stockenden Gesang, den der Wind herauftrug.
Eine Schande, dass die Kleine als Rote und nicht als Gelbe geboren worden war, dachte Cress. Nach ein paar Gesangsstunden hätte diese Stimme wie die einer der Künstler klingen können. Der Gedanke tat nicht so weh, wie sie erwartet hatte.

„Wie viele Leute haben wir?", fragte sie.

„Zehn Klingen."

Sie hob die Augenbrauen.
„Wir brauchen wohl wirklich Nachwuchs."

Er hatte sich inzwischen mit dem Rücken zum Geschehen an das Fensterbrett gelehnt und einen Schluck Wasser aus einer verbeulten Feldflasche genommen, die er ihr nicht anbot.

„Alle Gilden brauchen Nachwuchs", brummte er, „Vor allem die Herzgilde."
Immer noch bewegten sich die Kinder nicht, weswegen Cress es wagte, für einen Moment den Blick von ihnen abzuwenden.

„Was soll das heißen?"

„Hast du es noch nicht gehört?", fragte Keiran düster.
Cress schüttelte nur den Kopf.

„Sie haben einen gefangen. Der König hat Nanas goldenen Jungen erwischt."

Einen Moment lang starrte sie ihn an, bevor ihr Blick wieder nach draußen wanderte, scheinbar unbeteiligt.
Man könnte fast meinen, dass sie den Betroffenen gar nicht kannte.

„Dann wird sie alles daransetzen, beide zu bekommen."

„Ich dachte, du wärst die Erste, die es erfährt", sagte er, ohne auf ihren Ablenkungsversuche einzugehen. Cress war vollkommen auf die Kinder fixiert, die in der Dämmerung auf die Beine kamen und sich den Schotter von den Knien rieben.

„Anscheinend nicht", knurrte sie zurück.
Das Lied des Mädchens war verstummt, die Tränen des Jungen vorübergehend versiegt.

„Kanntest du ihn?"

Der Schatten biss die Zähne zusammen, bis es weh tat. Sie vertraute Kieran nicht genug, um mit ihm über solche Dinge zu sprechen. Sie würde sich später darum sorgen, wenn sie nicht mehr Gefahr lief in die Ungnade ihres Gönners zu fallen, weil sie keinen einzigen jungen Geist zurück in sein Hauptquartier gebracht hatte.
Anstatt zu antworten sprang Cress vom Fensterbrett auf das fleckige Laminat des Bodens.

„Sie kommen."

Wortlos verschwand Kieran die Treppen hinunter und Cress hinauf auf das Dach des Wolkenkratzers, während die Kinder langsam auf die düsteren Straßen zu schlichen, ohne zu wissen, was sie dort erwartete.



SkythiefWhere stories live. Discover now