K A P I T E L | 1

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K A P I T E L | 1
schmerzhafte Erinnerungen

Zoey

Ich lächele in die Ferne, lehne meinen Kopf an seine Brust und atme die kühle Abendluft ein. Meine blonden Haare wehen mir leicht ins Gesicht und kitzeln meine kühle Haut. Henry hat sein Kinn achtsam auf meinen Kopf gestützt und seine Augen sind auf die wunderschöne Landschaft gerichtet, die sich vor uns erstreckt.

Die untergehende Sonne bedeckt die Hauptstadt Englands mit einem glänzenden Schimmer. Die Lichter der vorbeifahrenden Fahrzeuge spiegeln sich überall in der Stadt wider und bieten uns ein wunderschönes Lichtspiel samt den Lichtern der Geschäfte. Die Skyline Londons scheint zu brennen. Für eine Weltmetropole ist London im Gegensatz zu New York wirklich friedlich leise und doch dröhnen die Hupen der Fahrzeuge durch die Stadt, nehmen dabei keine Rücksicht auf die Bewohner.

„Leute, seid ihr fertig? Ich will heute Abend noch ein paar Mädels klären", unterbricht Shawn unsere Zweisamkeit und sieht uns auffordernd an. Leicht erschrocken zucke ich zusammen, da ich unseren gemeinsamen Freund nicht kommen gehört habe. „Kommt schon!", drängelt er ungeduldig weiter, verschwindet danach ins Nachbarzimmer, ohne uns zuvor noch einen auffordernden Blick zuzuwerfen. Im Nebenzimmer höre ich, wie er Olivia und Matthew ruft. Ich seufze kopfschüttelnd und wirbele herum. Dabei legt Henry seine Arme um meine Hüfte und zieht mich zu sich. Typisch Shawn. Seit ich ihn kenne, hat er jede Woche eine andere Dame an seiner Seite, die er zuerst die große Liebe vorgaukelt, danach vögelt und zum krönenden Abschluss fallen lässt. Ein wahrhaftiger Serienromantiker.

„Wir könnten auch einfach einen gemütlichen Abend zu zweit veranstalten." Henrys Augen flehen mich an. Ich lache leicht, lehne meine Stirn an seine. „Nein. Die anderen freuen sich schon auf den Abend", meine ich grinsend und lege meine Lippen auf seine, bevor er die Möglichkeit hat zu antworten und mir zu widersprechen.

„Zoey! Henry!"

Henry stöhnt genervt aus und schiebt mich sanft ins Hotelzimmer. Hinter uns schließt er die Balkontür und schnappt sich seine schwarze Lederjacke. „Ich bin nochmal kurz im Bad." Henry nickt und ich verschwinde im besagten Raum. Ich wühle in meiner Schminktasche und umgreife den dunkelroten Lippenstift mit meinen Fingern, ziehe ihn heraus und schlucke schwer, als ich den Gegenstand sehe, der sich darum gewickelt hat.

Die Hundemarke verschafft mir ein schlechtes Gewissen. Ich streiche sanft über das kalte Metall, wobei sie mich quasi anschreit, dass ich mehr als schwach bin.

Wieso ich ihn schon aufgegeben habe, nicht um seine Existenz kämpfte.

Aber warum meine Kraft aufbrauchen, wenn alle anderen dich davon überzeugen wollen, dass er tot ist. Das es nur Zeitverschwendung ist und ich endlich mit der Wahrheit klarkommen soll. Muss.

Denn das ist die knallharte Realität, Märchen sind schwachsinnig und Happyends überflüssig.

Ich schließe meine Augen, atme tief durch und lege die Halskette zurück in die Kosmetiktasche. Danach richte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem breiten, pompösen, mit Marmor umrandeten Spiegel zu. Ich forme einen Kussmund und erneuere das Rot auf meinen Lippen. Anschließend lege ich ihn zurück und schalte den Lichtschalter aus, stolziere zurück ins Schlafzimmer zu Henry, der auf dem Boxspringbett sitzt und sein iPhone fokussiert.

„So, bin fertig." Henrys Kopf fährt hoch und mustert mich ausgiebig. Er hievt sich aus dem Bett und kommt mit einem breiten Grinsen auf mich zu. „Ich bin wohl der glücklichste Mann der Welt", raunt er mir ins Ohr und presst seine Lippen auf meine Haut unterhalb meines Ohrläppchens.

Keine Schmetterlinge, kein Kribbeln, kein rasender Puls.

Da ist nichts. Zumindest nicht mehr.

Und trotzdem bleibe ich mit Henry zusammen, denn trotz der stetig wachsenden Ungewissheit, bin ich nicht bereit ihn ziehen zulassen. Vielleicht, weil er mich von ihm ablenkt? Mich davon abhält, nicht über den Mann nachzudenken, dem weiterhin mein Herz gehört? Ich bin ein furchtbarer Mensch. Es ist nicht so, dass ich Henry überhaupt nicht liebe, doch immer wieder stellt sich mir die Frage, ob ich ihm diese bedingungslose Liebe entgegenbringen kann, die er mir jeden Tag aufs Neue beweist und die er mehr als verdient? Die feurige Leidenschaft zu Beginn unserer Beziehung ist schon lange nicht mehr so feurig und leidenschaftlich. Das Strahlen und der Glanz in meinen blaugrauen Augen sind schon lange nicht mehr so intensiv.

vestiges of the past | on holdWhere stories live. Discover now