Kapitel 3

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Unter all den Menschen, die der Seelenfänger lediglich als weiße, graue oder schwarze Nebelwolken sah, wandelte er selbst währenddessen unsichtbar und zeitlos umher. Bisher hatte es keine einzige Seele gegeben, die ihn jemals hatte sehen können und nicht mit ihm gegangen war. Jedenfalls keine, die hätte sterben sollen - bis er Mira fand. Dies war für ihn eine völlig neue Erfahrung und brachte sein sonst so perfektes Gleichgewicht ein wenig aus den Fugen.

Während Mira immer noch im Krankenhaus lag, bewegte der Seelenfänger sich über die überfüllten Straßen, durch die kleinen Wohnungen und die schmalen Gassen der Stadt. Stets angetrieben von seiner einzigen Aufgabe: Dem Einfangen der Seelen, für die die Zeit auf der Erde vorbei war. Er konnte die schwarzen Nebelwolken zwar nicht immer sofort sehen, doch seine dunkle Essenz verzehrte sich nach ihnen und wies ihm den richtigen Weg.

Heute gab es viele schwarze Nebelwolken, die er einsammeln musste, weil er einen Teil seiner Zeit bei Mira im Krankenhaus verbrachte, um sie zu beobachten. Im Normalfall vernachlässigte er seine einzige Aufgabe niemals und suchte ununterbrochen nach den einzusammelnden Seelen. Doch Mira war kein Normalfall, sie war anders. Möglicherweise hatte er das gefunden, wonach er seit einer Weile gesucht hatte und er musste herausfinden, ob es so war.

Dennoch konnte er seine Aufgabe nicht gänzlich ignorieren und so wandelte er über diese Erde. Zeit war für ihn bedeutungslos, ob Tag oder Nacht war unwichtig, denn er schlief nie, ruhte nie. Er musste das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod auf dieser Erde wahren, das war der einzige Grund seiner Existenz.

Auch die grauen Nebel um ihn herum würden bald schwarz werden, ihre menschliche Hülle verlassen und von ihm eingesammelt werden. Manchmal wartete er eine Weile, bis die Seelen ihren Körper verließen und mit ihm gingen, manchmal jedoch warteten sie bereits auf ihn. So verbrachte der Seelenfänger bereits mehr als 160 Jahre.

In einer kleinen Wohnung im Erdgeschoss des modernen Hauses war eine der schwarzen Nebelwolken, deren Zeit gekommen war, zu gehen und der Seelenfänger konnte spüren, dass diese alte Dame auch bereit dazu war. Sie saß in ihrem altmodischen Sessel, dem kleinen, bereits in Blüte stehenden Garten zugewandt. Auf ihrem Schoß lag eine ebenso alte Katze eingerollt und ließ sich mit Streicheleinheiten verwöhnen. Das weiße Tier sah allerdings mit aufmerksamen Blick auf, als es die Anwesenheit des Seelenfängers spürte und das entspannte Schnurren verwandelte sich in ein warnendes Knurren.

»Ach Blanka, ganz ruhig. Es wird Zeit zu gehen«, erklärte sie ihrer Katze mit rauer Stimme, um sie zu beruhigen und blickte dann zum Seelenfänger auf, denn auf der Schwelle des Todes verschwand die Nebelwolke und offenbarte die menschliche Hülle. Auch die Menschen waren dann für einen kurzen Augenblick unmittelbar vor ihrem Tod in der Lage den Seelenfänger zu sehen.

»Gehen wir ein Stück«, antwortete der Seelenfänger und hielt ihr seine große Hand hin.

In dem Moment, als die Frau ihre faltige, zitternde und zierliche Hand in die des Seelenfängers legte, durchzuckte beide eine Explosion. Gemeinsam mit der alten Dame durchlebte der Seelenfänger innerhalb weniger Sekunden ihr Leben noch einmal.

Sie hatte ein glückliches Leben gehabt, mit der Liebe ihres Lebens an ihrer Seite. Zwei Kinder hatten ihr vier Enkelkinder geschenkt, die sie noch mehr liebte als sich selbst. Der Seelenfänger spürte die glücklichen, teils euphorischen Gefühle in ihr, als sie ihr Leben noch einmal von außen betrachtete. Sie hatte ein zufriedenes Leben gehabt. Jetzt wusste sie, dass ihre Zeit gekommen war und wehrte sich nicht dagegen. Nicht viele Seelen waren bereit zu gehen, wenn es soweit war. Als sie am Ende ihres Lebens angelangt war, lächelte die alte Dame und es war ein erfülltes Lächeln, das ihre Fältchen im Gesicht noch vertiefte. Ihre Augen waren so alt und doch so voller Leben, wie sie den Seelenfänger nun anstarrten. Ihre Seele verließ die menschliche Hülle bereitwillig und fuhr in den Seelenfänger hinein. Das Ziehen seiner dunklen Essenz ließ für einen kurzen Augenblick nach, als die neue Energie von ihr verzehrt wurde. Die weiße Katze begann zu miauen, als sie feststellte, dass ihre Besitzerin diese Welt verlassen hatte, doch der Seelenfänger konnte nichts für das Tier tun und verließ daher die Wohnung.

[LESEPROBE] Der nächste SeelenfängerWhere stories live. Discover now