Kapitel 1

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Gelangweilt lag Harry in dem weißen Krankenhausbett und starrte auf den hell leuchtenden Bildschirm seines Handys. Ohne jegliche Regung las er seine Nachrichten, bevor er durch die neuen Bilder auf Instagram scrollte.
In der Luft hing der Geruch von Desinfektionsmittel und Seife und die grellen Neonlampen, welche an der Decke angebracht waren, surrten leise vor sich hin. Die Strahlen der aufgehenden Sonne fielen durch das große, jedoch einzige Fenster und färbten das kühle Zimmer in ein angenehmes, warmes Licht.
Der junge Mann in dem kleinen Bett schob die weiße Decke ein wenig zur Seite und zog an dem karierten Krankenhausoberteil, bis es nicht mehr so unangenehm kratzte. So wirklich bequem war es allerdings trotzdem nicht, egal was er auch versuchte.
Die leise tickende Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte halb acht und trotz der noch relativ frühen Uhrzeit war Harry bereits lange wach.
Durch die Tür vernahm man die vielen, lauten Geräusche auf dem Gang, welche ihn geweckt hatten. Wie sollte man bei solch einem Lärm auch schlafen?
Seufzend legt er sein Handy auf die Seite, rutsche tiefer in das Kissen und versuchte so die Wärme unter der Bettdecke zu genießen. Außerhalb dieser war es noch relativ kalt in dem Raum und so machte er Anstalten, die Decke bis zum Hals hochzuziehen.
Allerdings geriet er ins Stocken und starrte gedankenverloren auf seine Handgelenke. Nicht direkt, er starrte eher auf die weißen Verbände, welche seine Haut verdeckten. Vorsichtig rieb er über den Stoff und gab daraufhin einen resignierten Ton von sich.
Die Wunden, welche unter den dicken Verbänden versteckt waren, waren der Grund weshalb der junge Mann in diesem Bett lag. Während er darauf starrte, presste er seine Lippen verbittert zu einer schmalen Linie zusammen und Erinnerungen prasselten auf ihn herein. Seine Gedanken schweiften ab und zurück zu der Zeit, die ihn in dieses Loch getrieben hatte. An die Personen, die er dafür verantwortlich machte und die er am liebsten gar nicht mehr zu Gesicht bekommen wollte. Sie waren sowohl für das verantwortlich, was geschehen war, als auch dafür, dass er nun in diesem Krankenhausbett lag. Dass er hier aufgewacht war, obwohl er geplant hatte, nie wieder die Augen öffnen zu müssen.
Bei dem Gedanken an diese Zeit ballten sich seine Hände zu Fäusten.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die Nacht zurückdachte, die ihn hierhergebracht hatte. Als ihm alles zu viel wurde und er sich betrunken und aufgelöst tief unter die Haut seiner Handgelenke geschnitten hatte. Er wollte der Situation entkommen, die innerliche Leere und den Schmerz ein für alle Mal hinter sich lassen.
Er wusste keinen Ausweg aus seiner Situation, weswegen dies für ihn die einzige Möglichkeit war, dem zu entkommen.
Vermutlich wäre er nicht mehr am Leben, hätte seine Mutter ihn nicht rechtzeitig gefunden.
Als diese das Badezimmer betreten hatte und ihren Sohn bewusstlos und umgeben von Blut erblickte, hatte sie, ohne zu zögern den Notarzt gerufen. Natürlich hatte der junge Mann, als er aufgewacht war, beteuert, dass er unter dem Einfluss des Alkohols nicht gewusst hatte, was er tat.
Allerdings stand Harry seit diesem Moment unter Beobachtung, da die Ärzte meinten, er sei suizidgefährdet. Bei jeder möglichen Gelegenheit stritt er dies ab und betonte immer wieder, dass er nicht gewusst hatte, was er eigentlich getan hatte.
Nun lag er seit etwa einer Woche in dem Londoner Krankenhaus und wartete nur darauf entlassen zu werden. Er hatte den langweiligen Alltag satt und hasste es noch mehr, ständig überprüft zu werden. Es wurde so oft wie möglich kontrolliert, ob er irgendwelche scharfen Gegenstände bei sich hatte. Tagtäglich wurde er gefragt, wie er sich fühlte, ob er irgendwelche Gedanken hatte und was in ihm vorging. Natürlich meinte er jeden Mal aufs Neue, dass es ihm gut ginge und er keine suizidalen Gedanken hatte. Dass er froh war, am Leben zu sein und er bereute was er getan hatte. Er erzählte von seinen Zukunftsplänen und, dass er seine ältere Schwester, die er über alles liebte, nicht einfach zurücklassen konnte.
Harry hatte sich jedoch innerlich geschworen, sobald er wieder zu Hause war, alles zu beenden.
Er hatte genug von allem, hielt die täglichen Situation und die ständige Leere nicht mehr aus. Es war jeden Tag aufs Neue der gleiche triste Alltag. Zwar gab es auch gute Tage, an denen die negativen Gedanken, diese Leere auch mal für eine längere Zeit ausblieben und er einfache Dinge genoss, doch diese Tage wurden immer seltener.
Die beiden Freunde, die er noch hatte, interessierten sich nicht für ihn und hatten nur einmal gefragt, wo er denn war. Sie waren zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt und nachdem Harry ihnen erzählt hatte, dass er lediglich krank war und im Bett lag, hatten sie sich nicht mehr gemeldet.
Auch seine Mutter hatte ihn in der vergangenen Woche gerade zwei Mal besucht und das letzte Mal war schon ein paar Tage her.
Harry hatte jedoch einen großen Teil dazu beigetragen, dass seine Mutter so lange nicht wiedergekommen war. Bei ihrem letzten Besuch hatten sie sich gestritten und Harry hatte sie für die momentane Situation verantwortlich gemacht. Er hatte ihr vorgehalten, dass sie nie da gewesen war, ihm nie zugehört hatte und sich nur um ihre eigenen Sachen gekümmert hatte.
Die Wut, welche er in dem Moment ausgestrahlt und übertragen hatte, galt jedoch eigentlich ihm selbst.
Er war nicht wütend auf seine Mutter, er war wütend auf sich selbst, dass er noch immer am Leben war. Selbst das hatte er nicht geschafft und das frustrierte ihn so sehr, sodass er diese Frustration daraufhin an seiner Mutter ausgelassen hatte. Er hatte ein Ventil gebraucht, an welchem er diese sich aufstauenden Gefühle ablassen konnte und das war nun mal in diesem Moment seine Mutter gewesen.
Irgendwann ertrug die ältere Frau dies nicht mehr, hatte sich umgedreht und war aus dem Zimmer gestürmt.
Harry hatte die Tränen in ihren Augen gesehen und ein Funken Reue war in ihm aufgeflammt. Zu dem Zeitpunkt war es allerdings schon zu spät gewesen.
Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander geredet und so lag der brünette, junge Mann einfach nur in dem fremden, weißen Bett und wartete.
Wartete auf den Moment, in dem der Arzt kommen würde und ihm sagen würde, dass er entlassen sei.
Wartete auf dem Moment, in dem er nach Hause gehen konnte.
Wartete auf den Moment, in dem er die Chance bekam, alles zu beenden.

Ein leises Seufzen verließ die Lippen des Brünetten mit den klaren, grünen Augen, welche er für einen kurzen Moment schloss. Mit einer Hand fuhr er sich über die geschlossenen Lider und versank für ein paar Sekunden in Gedanken. Er ließ diese kreisen, umherwandern und erlaubte sich den kurzen Moment der Entspannung. Seine Fingerspitzen vergrub er in seinen gelockten Haaren, die wild auf seinem Kopf lagen.
In wenigen Minuten würde die schwarzhaarige Krankenschwester Isabelle zu ihm kommen und das Frühstück bringen, das wie jeden Morgen aus einer Tasse Tee, zwei Stück Toast, etwas Käse sowie Butter und Marmelade bestehen würde. Isabelle würde warten, bis er sein Toast bestrichen hatte, währenddessen ein wenig Smalltalk führen und dann mit dem Messer wieder gehen.
So lief es immer ab, morgens, mittags und abends. Die einzige Ausnahme war, wenn es Suppe gab, was bisher erst einmal vorgekommen war.
In dem Fall bekam er lediglich einen Löffel, weshalb die Schwarzhaarige ihm einen guten Appetit wünschte, kurz fragte wie es ihm ging und dann wieder verschwand.

Breathe Me || Larry AUWhere stories live. Discover now