Leseprobe von "Waldläufer"

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Würde ihr Sohn Thomas sich heute zeitig genug aus dem Bett begeben, etwas zum Frühstück essen, den Weg zur Schule gehen und tatsächlich am Unterricht teilnehmen? Unzählige Nervenkrisen und laut schreiende Streitereien gehörten mittlerweile zum Alltag eines zermürbenden Nervenkrieges. Bekannte und Verwandte sagten, dass dies eine normale Phase der Entwicklung eines jungen Mannes sei und sich geben würde. Weder Frau noch Herr Dupont konnten in ihren jungen Jahren damit rechnen, welche Ausmaße die sogenannte Pubertät annehmen würde. Zumal diese Phase normalerweise überstanden sein musste. Ihr Sohn wurde bald achtzehn Jahre alt. Thomas weigerte sich, mit Psychologen zu sprechen. Er wehrte sich, wo sich eine Gelegenheit bot, gegen alle Anforderungen eines geregelten Lebens. Allem Anschein nach hatte Thomas an diesem Morgen beschlossen, aufzustehen und sich sogar in der Küche blicken zu lassen. In nachlässig geschlossenen Turnschuhen schlurfte er über den altmodischen Fliesenboden. Seine Mutter tat so, als sei alles in Ordnung und erkundigte sich, ob er gut geschlafen habe, worauf er nicht antwortete. Sie warf einen vorwurfsvollen Blick über den Rand ihrer Kaffeetasse in die Richtung ihres Ehemannes. Fast so, als habe ihr müder Ehepartner in diesem Moment etwas falsch gemacht. Herr Dupont seufzte schwer und faltete geräuschvoll und mit übertriebener Sorgfalt seine Tageszeitung zusammen, dabei blieb der Teil über Wirtschaft und Aktien gut sichtbar. Möglich, dass er diesen Abschnitt anschließend in Ruhe lesen wollte. Thomas war an diesem Morgen mit relativ guter Laune aufgewacht, was wohl daran lag, dass ihm zwei Wochen lang die Schule erspart blieb. Doch allein der Anblick der lächerlichen Zahlen und Titel auf dem Papier dieser eingebildeten Zeitung schnürte ihm den Magen zu. 

Sein Vater las so etwas und kam sich dabei nicht nur gut, sondern auch noch wichtig und klug vor! Wie er dieses sinnlose Getue hasste! Der Junge schüttete seinen bitteren Geschmack im Mund mit etwas Orangensaft direkt aus der Flasche runter. „Thomas, könntest du dir bitte ein Glas nehmen! Andere wollen auch davon trinken“, ermahnte seine Mutter.Thomas schnaufte kurz auf, was man als ein sarkastisches Lächeln interpretieren konnte, nahm einen weiteren Schluck und sprudelte mit dem Saft in seinem Mund herum, wie man es mit klarem Wasser nach dem Zähneputzen zu tun pflegt. Kaum hatte er geschluckt, fragte er kühl und distanziert: „Hast du den Satz in einer der amerikanischen Serien gestern Abend gehört? Diese geistlosen Programme, die man ordentlichen Arbeitern und Steuerzahlern serviert, damit sie davor einschlafen können.“ Bei seinen Worten beobachtete er, nicht ohne Missfallen, wie seine Mutter noch blässer wurde, als sie ohnehin schon war. Offenbar lag er richtig und setzte noch eins oben drauf: „Du weißt, was ich meine? Diese aktuellen Serien amerikanischer Superpolizisten, die von ihrer Arbeit und vom schlechten Gewissen aufgefressen, sich für ihre Fälle aufopfern und zwischen Scheidungen und neu komponierten Familien jonglieren müssen. Solche Geschichten vermarkten sich besonders gut. Der Satz, den die Mutter ihrem Teenager mit betonter Geduld sagt, weil er O-Saft aus der Flasche trinkt, um ihrem neuen Lover zu provozieren.“„Mein Sohn, deine Mutter und ich haben nicht die geringste Absicht, uns scheiden zu lassen …“, wagte sein Vater einen Vorstoß. Er hatte seine große Stimme aufgelegt aber sein Sohn schnitt ihm sofort das Wort ab: 

„Ich weiß Pa, bin auf dem Laufenden. Du solltest dir vielleicht ein paar Aktien von diesen Produktionen kaufen. Vielleicht verdienst du da mal was.“„Ich verbiete es dir, über Dinge zu sprechen, von denen du keine Ahnung hast!“ Herr Dupont hingegen lief rot im Gesicht an. Ein paar Minuten hatten gereicht und die Provokationen seines Sohnes brachten ihn aus der Fassung. Sein Puls beschleunigte sich. Er hatte seine Blutdrucktabletten noch nicht genommen. „Ich dachte, es wäre gut, wenn Kinder mit ihren Eltern sprechen“, fügte Thomas scheinbar lässig hinzu und trank einen weiteren großen Schluck aus der Saftflasche. „Du solltest eine Kleinigkeit essen. Orangensaft ist sehr aggressiv für den nüchternen Magen“, warf Frau Dupont beschwichtigend ein.„Och, das ist nicht schädlicher für meine Gesundheit, als die verpestete Luft, die wir hier in der Stadt atmen“, brummte Thomas und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Du hast recht! Wir müssen miteinander reden!“ Herr Dupont erhob sich von seinem Stuhl und baute sich in voller Größe vor seinem Sohn auf. Mittlerweile waren ihre Gesichter auf gleicher Höhe und er sah insgeheim ein, dass er seinen Sohn fürchtete. So, wie gerade in diesem Augenblick. Thomas blickte ihn unter einer langen Haarsträhne aus seinen hellbraunen Augen an. Er liebte die Herausforderung, Leute, die ihm gegenüber autoritär sein wollten, aus der Fassung zu bringen. Eines musste man dem jungen Kerl eingestehen, er kniff nie und verfügte über einen außergewöhnlichen Mut. Das hatte er bereits mehr als einmal bewiesen. Doch Dupont riss sich zusammen und seine Stimmeklang fest und bestimmend, als er fortfuhr: „Die vergangenen Unwetter der letzten Tage haben sich gelegt. Vorläufig wissen wir noch nicht, ob die Jugendfreizeit in Fontainebleau stattfinden kann. Doch Nadine wird uns noch heute Morgen Auskunft geben, was der Wetterbericht entscheidet. Du wirst an dem Ausflug teilnehmen, ob du willst oder nicht. Deiner Mutter und mir steht auch etwas Urlaub zu!“ Üblicherweise hätte Thomas daraufhin geantwortet, aber zu hören, dass seine Eltern mal wieder die verdammte Nachbartochter einschalteten, um ihn mundtot zu machen, brachte ihn völlig aus der Fassung. Vehement stellte er die Flasche neben sich auf die Küchenablage, nahm seinen abgewetzten Rucksack aus schwarzem Kunststoffmaterial auf, warf seinen Eltern einen strafenden Blick zu und wollte so schnell wie möglich das Appartement verlassen. Seine Mutter rief ihm etwas nach, aber er hörte nicht. Genau in dem Augenblick, in dem er den Griff der Eingangstür in der Hand hielt und aufreißen wollte, ertönte der nervige Klingelton, wenn jemand eingelassen werden wollte. Thomas fand sich plötzlich Nase an Nase mit der niedlichen Nadine. Das Abbild jugendlicher Unschuld gepaart mit frischer Intelligenz und entsetzlichen Optimismus. Wie immer adrett gekleidet, wie es von einem modernen Mädchen erwartet wurde, sauberen blonden Haaren und dezenter Schminke. Er begrüßte sie nicht, schob sich an ihr vorbei und eilte die Treppen hinunter. Es wollte nicht wie ein Tölpel auf den Aufzug warten, jetzt musste er einfach so schnell wie möglich von der Bildfläche verschwinden. „Guten Morgen, Thomas!“, hörte er die sanfte Mädchenstimme in seinem Rücken. Daraufhin seine Mutter. „Guten Morgen, Nadine! Wie freundlich von dir, dass du gekommen bist! Hast du Zeit für einen Kaffee?“, begrüßte Frau Dupont das nette Mädchen, doch diese verneinte höflich. „Ich habe heute Morgen ein Mail vom Direktor des Vereins bekommen. Seiner Meinung nach hat sich die Wetterlage stabilisiert und er meint, er kann den Ausflug bedenkenlos antreten.“Auf dem Gesicht der Frau zeichnete sich sichtbare Erleichterung ab. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 16, 2013 ⏰

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