Valerie

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Nein. - Das war wohl das erste Wort, welches Valerie Delune in ihrer Kindheit sagen konnte. Nein. - Zu allem was ihr nicht gefiel. Nein. - Zu allem, was ihr nicht in den Kragen passte. Auf das Wort „Nein" folgte schließlich „Ich" und „Bitte". Letzteres schien ihr zweifelsfrei die Mutter beigebracht zu haben. Und so war es nicht verwunderlich, dass der erste Satz der kleinen Dame „Nein, ich bitte" zwischen den Wänden des Hauses dreiundvierzig in der Route de Nice widerhallte.

Das kleine Mädchen wuchs in einem überschaubaren Dörfchen unweit wichtiger und großartiger Metropolen in Südfrankreich auf. Das zierliche Kind, hauptsächlich Valerie genannt - denn jeder wusste wer sich hinter diesem Namen verborg - besuchte zuerst eine Schule und arbeitete später als Geist der Wünsche und Erinnerungen. 

Von Valerie hörte man nur, welche Wunder sie am besagten Tage wieder vollbrachte. Das schönste Kleid trug sie immer wenn sie aufstand, ihr Lächeln zu sehen war das Ziel eines jeden. Schwärmen tat man von Valerie natürlich sobald die Sonne aufging, man schwärmte von dem Mädchen aus dem Dorf von nebenan. 

Ich malte mir immer eine kleine Frau mit braunen Haaren aus, die ihr ganzes Leben durch die Straßen singend sprang und dabei gar nicht wusste, welchen Schaden sie eigentlich anrichtete. Seien es die verwirrten Köpfe oder der Kaffee auf meiner Jacke oder die Vorladung, die ich danach erhielt. 

Eigentlich war es doch interessant, dass sich jeder jemand anderes unter Valerie vorstellte. Die einen sprachen von roten Haaren, die anderen von blauen Augen. Aber ich behielt mein kleines Bildchen der Fantasie, so wie die anderen die Vorstellung einer untypischen Frau. Später erst würde ich sehen, dass Valerie eine kleine Schokoladenpraline mit einer kleinen Himbeere im großen Inneren war.

***

Das erste mal hörte ich von dem Mädchen mit den rosaroten Lippen, als ich gerade im Laden von Madame Remie stand und mich nach einem neuen Hut für meine Garderobe umsah. Ich war leidenschaftlicher Hutsammler. Meiner Sammlung gehörten bereits dreiundzwanzig Exemplare an und es schien nicht ersichtlich, dass ich irgendwann damit aufhören würde. 

Die Tür platzte auf und knallte gegen die Wand. Es stürmte ein ganz verrückt wirkender kleiner Mann in den Laden und riss fast die halbe Kleidung samt Kleiderständern um. War er denn des Wahnsinns? Er hinterließ einen kleinen Fleck auf meinem Mantel, denn aus irgendeinem unwissentlichen Grund musste der Mann wohl mit Farbe gespielt haben. 

„Sie trug heute ein langes Kleid von Dior, in rot! ich habe es gesehen!", sprach der fast der Ohnmacht nahe keuchende Mann. Er setzte er sich in einen Sessel, der schon etwas älter war in der hinteren Ecke des Ladens.

„Wer trug was?", fragte ich etwas verunsichert. Musste man das kennen? Dior war mir ein Begriff, aber deshalb so geistesabwesend einen halben Laden in Trümmern zu hinterlassen schien mir doch befremdlich. Ich versuchte immer noch meinen Mantel von dem Fleck zu befreien, dass ich dem Unruhigem nur begrenzt Aufmerksamkeit schenkte. 

„Valerie Delune? Sagt Ihnen dieser Name nichts? Mein Herr, von wo kommen sie denn?" Eine dickbäuchige Frau, wohl Madame Remie, stürzte sich zu mir und drückte mich leicht gegen die Wand.

„Sie kennen Valerie Delune nicht?", erkundigte sie sich dann genauer. Es trat eine Menschenmenge um mich und beäugte unglaubwürdig meine Gestalt. Waren denn alle verrückt geworden?

„Nein", erwiderte ich etwas unsicher. Es schien mir als würde man mir vorhalten ich wüsste nicht wer de Gaulle war oder Jeanne d'Arc. In meinem Kopf durchforstete ich sämtliche Möglichkeiten für Valerie, aber ich konnte mich an keine nennenswerte Person erinnern.


ValerieWhere stories live. Discover now