Prolog

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In seinem Büro herrschte angenehme Stille. Zwei Kerzen flackerten in den Ecken. Eine Weile sah Titus zu, wie das Wachs langsam herunter tropfte und sich am Steinboden auftürmte. Schon einige Male hatte er überlegt, die Wachsberge zu entfernen, aber mit jeder Kerze wurden sie größer und bunter und irgendwie mochte er sie. Daher wuchsen die Berge weiter, während er sich seinen Dokumenten widmete.

Er hasste diese Arbeit, aber wenn er schon so vieles andere vernachlässigte, musste zumindest alles für die Silver stimmen. Sie brauchten ihren Unterschlupf, brauchten ihre Waffen und mussten versorgt werden. Dann gab es da noch die Berichte, die er durchzulesen hatte. Einige enthielten pure Spekulation - wenig hilfreich. Andere wiederum Sterbebescheide - unerfreulich. „Wieder welche", dachte er und rieb sich die Schläfen. Er ruhte die Augen aus, zählte bis zehn, bevor er sie wieder öffnete. Die unterste Schublade seines Schreibtisches schloss er immer ab. Er nahm den Schlüssel von der Kette, die er um den Hals trug, und öffnete sie. Die Bilder, die er dort aufbewahrte, schob er schnell zur Seite. Für alles gab es den passenden Ort und die passende Zeit und die war nicht jetzt. Das Antlitz mit den runden Wangen und den langen Wimpern sah er nur Sekunden und doch brannte der Anblick schmerzhaft.

Schnell zog Titus das in schwarzes Leder gebundene Notizheft heraus und verschloss die Schublade samt der darin enthaltenen Erinnerungen wieder. Mit den Fingerspitzen fuhr er den eingestanzten, silbernen Dolch nach, der die Vorderseite zierte. Seit 350 Jahren benutzte er diese Notizhefte. Es waren viele, sehr viele geworden seit damals. Das Bücherregal an der Wand hinter ihm ragte hoch und schmal über seine Schultern und war voll von diesen Heften. Jedes trug eine Nummer und eine Jahreszahl. Sie enthielten 350 Jahre Tod. Angefangen mit den Namen seiner Eltern und seiner Schwester.

Der Mann hinter dem Schreibtisch ballte die schlanken Hände zu Fäusten, ein Knurren entsprang seiner Kehle. Vehement schob er die Erinnerungen zurück in die Ecke, in die er sie verbannt hatte. Dann machte er sich daran mit fein säuberlicher Handschrift die Namen derer einzutragen, die nicht mehr waren. „So viele!", murmelte Titus. Beunruhigend wenige Blätter verblieben mehr in diesem Heft. Bald würde er ein neues beginnen müssen, egal wie sehr er es auch verabscheute. Er war müde geworden. So müde. Er wollte nichts von alledem. Rache war das einzige, das ihn antrieb. Ihn Nacht für Nacht auf die Straße trieb.

Noch bevor er diesem Gedanken auch nur eine Sekunde länger nachhängen konnte, durchzuckte ihn ein unsäglicher Schmerz. Er begann in der Mitte seiner Stirn, breitete sich in seinen Hinterkopf und seinen Nacken aus. Dann griff er auf sein Gesicht über, lähmte seine Arme und umschloss mit fester Hand sein Herz, quetschte es, bis Titus kaum mehr Luft bekam. Er keuchte. Seine Sicht verschwamm. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Wieder keuchte er. Der Schmerz wurde stärker, bis er vollständig in seinem Sessel gelähmt erstarrte. Titus war sich sicher, dass dies sein Tod sein würde. Und er wusste nicht einmal wie. Vielleicht ein neuer Trick von Beryll? Oder hatte die Göttin endgültig genug von ihm und entledigte sich seiner? Er würde es nie erfahren...

Der große Mann rutschte aus seinem Sessel und ging zu Boden, als wäre er nicht aus Knochen und Muskeln, sondern nur eine Puppe, die man achtlos wegwarf. Dort lag er auf dem Stein und stellte fest, dass es ihm nichts ausmachte, wenn er nun starb. In Wahrheit hätte es schon vor 350 Jahren geschehen müssen. Er war bereit.

Doch Titus starb nicht. So schnell der Schmerz gekommen war, so plötzlich ließ er von ihm ab. Der Moment ging vorbei und er war wieder Herr seines Körpers.

„Was zum Teufel?" Titus richtete sich auf und sah sich in seinem Büro um. Alles unverändert. Mit fest aufeinander gepressten Lippen stürmte er hinaus. Im Gang begegnete er einem seiner Leute, doch er ignorierte ihn. Ihm war nicht nach reden, sein Blut schrie nach Jagd. Sofort. 

Im Zeichen des LotusWhere stories live. Discover now